Notizen und Anmerkungen von unterwegs

Modernisme Català – die Spinner aus Barcelona

Photo by W. Stock

Wenn man durch den Passeig de Gràcia, den breiten Prachtboulevard Barcelonas, bummelt, dann kommt man sich bisweilen vor wie in einem niedlichen Zuckerbäckerhäuschen. Ein knuffiger Balkon neben dem anderen, eine bauschige Säule, dann gleich die nächste. Alle Meter lang findet sich eine neue Art-Nouveau-Überraschung.

Wohl keine Stadt der Welt kann einen solchen Reichtum an Jugendstilhäusern vorweisen wie die Hafenstadt an Kataloniens Küste. Die katalanische Spielart des Jugendstils wird hier anders tituliert, nämlich als Modernisme Català und manchen Kennern sieht in diesem Modernisme die wohl konsequenteste und radikalste Ausprägung des europäischen Jugendstils.

Im Grunde genommen ist der Modernisme ein Protest gegen die Gerade, gegen die Strenge und gegen die Rationalität. Jene Schnörkel und bunten Verzierungen werden als Auflehnung gegen die neogotische Architektur und den damaligen Zeitgeist verstanden. Während der Industrialisierung hat man diese häßlichen quadratischen Zweckbauten hingestellt, die zum Teil noch heute als alte Bahnhöfe oder Fabriken unseren Sehnerv terrorisieren.

Der Modernisme hingegen wollte weg von Monotonie und Zweckmäßigkeit. Er verlangte Farbigkeit, Reize, Bewegung und damit pulsierende Lebendigkeit. Der Modernisme wollte den Schlenker, lehnte das Gleichmaß trotzig ab, war gegen jene Klarheit, die letztlich nur in Ödnis mündete.

Statt Eintönigkeit setzte der Modernisme auf romantisch-verträumte Rundungen. Die Natürlichkeit und die Bewegung sollten Zweckhaftigkeit und Normiertheit ablösen. Die Casa Milà, die Casa Batllo oder der Palau de la Música Catalana stehen in Barcelona als künstlerische Zeugen einer Durchdringung dieser Sichtart in das Alltagsleben.

Die Väter des Modernisme – Antoni Gaudí, Josep Puig i Cadafalch und Lluis Domènech i Montaner – waren architektonische Anarchisten. Ästhetische Rebellen, die sich mit allen Mitteln und Sinnen gegen die wohlgefügte rationale Ordnung aufbäumten. Diese verspielte Bauweise war eigentlich ein Schrei nach Individualität und Freiheit. Solch elitäres Denken war nun auch mitten im Bildungsbürgertum Kataloniens angekommen.

Hafenstädte besitzen ja die Eigenheit, immer ein wenig liberaler und offener zu sein als andere. Jedoch erst die Ingredienzen eines modernen katalanischen Nationalismus, eines politischen Rebellentums und diese künstlerische Auflehnung ergaben jene explosive Mischung, die dann den Modernisme begründete.

Wahrscheinlich würden man in unseren Tagen einen Architekten des Modernisme als Hippie, als Verrückten oder zumindest als wunderlichen Kauz bezeichnen. In Barcelona jedoch vermag man an jeder Ecke sehen, wohin Spinnertum führen kann. Nämlich zu Pracht und Pomp, der stärker ist als alle Zeit.

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Ein Fall für Zwei

  1. apple

    Was wäre die Welt ohne „Spinner“? Stinklangweilig. „Das haben wir schon immer so gemacht“, was geht mir dieser Satz auf den Keks!

    „Spinner“ machen die Welt bunter und interessanter. Die „Spinner“ des Impressionismus ließ man gar nicht erst ausstellen. In der Architektur kenne ich mich nicht so gut aus, aber die Malerei ohne Renoir, Degas, Manet, Monet, Sisley, Cezanne, Vincent … tut mir leid, ich kann die spinnerten Maler – hinein bis in die Moderne – nicht aufzählen.

    In der Musik ist es ja ähnlich: Was haben die Leute über den Jazz gesagt? „Affenmusik“. Den Pionieren des Rock und des Pop erging es nicht besser. Mozart wäre wahrscheinlich, lebte er heute, einer der besten Rockmusiker (möge sich bitte kein E-Musikfreund aufregen).

    Interessant ist aber die Frage: Wer spinnt hier eigentlich?

  2. KH Bonet

    Ja, Barcelona war im Jugendstil herausragend. Neben Paris. Nur waren sie in Barcelona noch verspielter und gewagter. Übrigens, ein Jugendstil-Geheimtip ist: Nancy in Frankreich.
    Karl-Heinz Bonet

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