Photo by W. Stock; München, August 2010.

Hier kommt Schwabing daher wie aus dem hübschen Reiseführer. Kleine Ladengeschäfte und exotische Restaurants flankieren die ruhige Clemensstrasse, in der sich jeder Student wohl fühlen müsste. In Parterre des alten Hauses Clemensstrasse 84 findet sich ein kärglicher Getränkemarkt, der zugleich einen Pizza-Service und den Café-to-go anbietet. Gegenüber bietet ein peruanisches Restaurant seine köstlichen Gerichte an.

Das niedliche viergeschossige Haus, in dezentem laubgrün und weiß gestrichen, hat seinen Charme über die Jahrzehnte tapfer verteidigt. Und was die wenigsten wissen, dieses Haus Clemensstrasse 84 birgt ein Mysterium der deutschen Literaturgeschichte.

Von 1915 bis 1919 hat in diesem Eckhaus, auf dem dritten Stockwerk, in einer 3-Zimmer-Wohnung, der Schriftsteller Ret Marut gewohnt und gearbeitet. Dieser rätselhafte Ret Marut zeichnet in jenen Jahren als Verleger und Hauptautor der sozial-radikalen Zeitschrift Der Ziegelbrenner. Im Impressum des ersten Ziegelbrenner-Heftes vom 1. September 1917 kann man nachlesen: Geschäftsstelle des Verlages: München 23, Clemensstrasse. Ohne Hausnummer.

Das ist so diese typische Geheimniskrämerei, die das ganze Leben dieses Autors bestimmen soll. Im Impressum des Ziegelbrenner liest man dann folgende seltsamen Sätze: Besuche wolle man unterlassen, es ist nie Jemand anzutreffen. Fernsprecher haben wir nicht.

Ein kauziger Menschen dieser Marut – und ein geheimnisvoller Schreiber. Von Düsseldorf kommend hat sich Ret Marut, Schauspieler und Autor, in der Clemensstrasse 84 eingemietet. Die Polizeidirektion München verfasst mit Datum 19. 11. 1917 ein Dossier über die suspekte Person: Marut, Ret, geb. 25. Februar 1882 in San Franzisko, amerikanischer Staatsangehöriger, Schauspieler, Schriftsteller, ist seit 3. 7. 1917 hier im Aufenthalt und z. Zt. Clemensstrasse 84/3, in Wohnung gemeldet.

Name – falsch, Nationalität – auch falsch, Geburtsort – ebenso falsch. So gut wie alle Angaben, die Ret Marut den Behörden mitteilt, sind gelogen, alles ist eine ziemliche Räuberpistole, hier werden Nebelkerzen gezündet. Schon dieser merkwürdige Name Ret Marut bildet eine Täuschung, ist eine Erfindung, scheint mehr Phantom als Pseudonym. Vielleicht ist der Name ein Anagramm, ratet rum. Wie auch immer.

Wer die Person nun wirklich ist, die sich hinter dem Kunstnamen Ret Marut verbirgt, darüber gibt es bis heute nur Vermutungen und Spekulationen. Nach der Proklamation der Räterepublik am 7. April 1919 arbeitet Ret Marut als Zensor der bürgerlichen Tageszeitungen und fungiert vom 7. bis 13. April als Leiter des Presseausschusses im revolutionären Zentralrat. Nach der Niederschlagung der nur einen Monat dauernden Räterepublik muss Marut – nun steckbrieflich gesucht – rasch abtauchen.

Und er taucht fünf Jahre später, im Juli 1924, wieder auf. Im fernen Mexiko. Mit ganz anderem Namen. Wieder ein geheimnisvolles Pseudonym. Aus Ret Marut wird B. Traven.

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