Frankfurt am Main, im Oktober 1991
Durch Zufall, Glück oder Absicht bin ich einigen deutschen Bundeskanzlern begegnet.
Da war Willy Brandt, mit dem ich lange in seinem letzten Wohnort in Unkel am Rhein bei einem Rotwein an einem Tisch im Café am Markt saß. Oder Gerhard Schröder, den ich als junger Journalist interviewen durfte und dem ich später bei einer Fernsehsendung in Frankfurt erneut über den Weg lief. Und da war Helmut Kohl, der einmal auf der Frankfurter Buchmesse plötzlich am ECON-Stand auftauschte.
Es war schon vorher etwas Unruhe zu spüren, als ein paar kräftige Männer mit Walkie Talkie und leicht ausgebeulten Achsehöhlen zwischen unseren Buchregalen auftauchten. Was denn los sei, traute sich einer zu fragen. Der Kanzler kommt, war die knappe Antwort.
Verleger Hero Kind begrüßte ihn freundlich. Und Gertrud Höhler, ihren frischen Bestseller Spielregeln für Sieger in der Hand, versuchte ein Gespräch mit dem Kanzler. Aber alle Umstehenden merkten schnell: Helmut Kohl ist kein Meister des Small Talks, er ist wohl auch kein besonders guter Zuhörer. Mir fiel vor allem sein Mangel an Humor auf, denn bei so einer kurzen Begegnung platziert man eine knappe ironische Bemerkung, ein lustiges Bonmot, aber selbst den Humor ging der Kanzler Kohl mit wackerer Ernsthaftigkeit an.
Man sollte sich hüten, nach wenigen Minuten auf einen Charakter zu schließen, aber oft ist der erste Eindruck ja auch der Richtige. Der Pfälzer tut sich schwer mit dem Räsonieren, mit der Literatur, mit modernen Themen. Vielleicht fehlt das Interesse, die Offenheit wahrscheinlich, mag sein, der Mann hat Wichtigeres zu tun.
Überhaupt schien mir dies Mensch mit, nun ja, fokussierter Sicht. Was ihn nicht interessierte, mit dem befasste er sich nicht gerne. Aber vielleicht war es auch so, dass der Gesprächspartner bei ihm nicht das richtige Thema oder den richtigen Ton traf.
Insgesamt war er mir nicht unsympathisch. Seiner Politik haftete nichts Spektakuläres an, mit 90 Prozent stimmte ich überein, und die deutsche Einheit hat er mit Bravour gemanaged, dort, wo alleine im Denken andere grandios gescheitert sind.
Ich bin in seinem Land geboren, bin dort zur Schule gegangen und habe Abitur gemacht, als er der Ministerpräsident war. Ich weiß, wie dieses Land, es heißt Rheinland-Pfalz, tickt. Es ist ein Landstrich ohne Metropole, ohne Tor zur Welt, und auch ohne ausgeprägte intellektuelle Neugier und Weltoffenheit. Statt dessen zeigt sich dieses Bundesland ehrlich, rechtschaffen und anständig, aber im Kern doch erschreckend bieder und hausbacken.
Kohl haftete der Ruf eines Provinzlers an, und wahrscheinlich stimmte das, im Guten wie im Schlechten. Er besaß nicht die Gewitzheit eines Konrad Adenauer, nicht die Weltläufigkeit eines Hemut Schmidt, nicht das Visionäre eines Willy Brandts. Helmut Kohl war der Landrat, der sich plötzlich auf dem Stuhl des Bundeskanzlers wiederfand. Und jemand, das muss eingeräumt werden, der mit den Aufgaben wuchs.
Am ECON-Stand, da war er kurz, blätterte in ein paar Büchern, und zog nach fünf Minuten weiter.