Notizen und Anmerkungen von unterwegs

Iquitos – die merkwürdigste Stadt von allen

Iquitos

Iquitos in Peru, Photo by Norbert Böer

Falls man einige Jahre auf dem Buckel, ein paar Kontinente und noch mehr Länder gesehen hat, dann mag man in einer stillen Stunde und bei einem guten trockenen Rotwein schon einmal seine Hitliste der Destinationen erstellen. Welches denn die interessanteste Stadt ist, in die ein Flugzeug unsereinen fliegen kann? Was ist wohl das Topziel für Traveller auf diesem ganzen runden Globus?

Nein, nein, gemeint ist kein Wüstenloch mit Holperpiste und auch kein Südseeeiland, in das uns eine propellernde Cessna bringt. Nein, ich meine eine große Stadt mit großem Flughafen, eine richtige City mit richtigem City-Airport. Und dann mag man am Barolo nippen und seine Liste durchgehen, wer da auf vorderen Plätzen zu finden sein muss: CDG, sicherlich, weil in Paris noch immer die Liebe wohnt. NYC, wo das Leben pulsiert, man aber tunlichst reich sein sollte. In GOI braucht man nicht unbedingt reich sein, der Goa-Besucher sollte aber zumindest jung sein. Und bei SFO sollte man am besten beides sein, jung und reich.

Meine Nummer Eins ist allerdings eine ganz andere Stadt. Ein Ziel, das so viele noch nicht angesteuert haben, und das manchem gänzlich unbekannt ist: IQT. Mitten im Amazonaswald.  Bei Iquitos muss man zuallererst einen Blick auf die Landkarte werfen, um zu erkennen, dass die Menschheit sich hier eine unglaubliche Albernheit erlaubt hat. 3.646 Kilometer fern dem Atlantik und 1.859 Kilometer abseits der Hauptstadt Lima am Stillen Ozean liegt diese Großstadt – 03°47´17´´ Süd, 73°14´59´´ West – eingefangen und eingesperrt inmitten des Amazonasgestrüpps. Die Stadt lässt sich bequem eigentlich nur auf dem Luftweg erreichen, jedenfalls gibt es keine Straße, die zu dieser Stadt führt. Außer durch die Luft bietet sich nur das Wasser an: ein tagelanger Umweg über Pucallpa am Rio Ucayali, der dann in den Amazonas mündet, bleibt die einzige Alternative zum Flugzeug..

Und spätestens hier wird einem klar, dass IQT sich des Spitzenplatzes würdig zeigt: Aus dem Flieger erkennt man rasch die Faszination, die von dieser Stadt ausgeht: Hunderte Quadratkilometer sieht man nur diesen gleichmäßigen grünen Vegetationsteppich. Dann taucht urplötzlich dieses wilde Knäuel von Häusern, zerzausten Straßen und Plätzen auf. Und dann wieder dieser unendliche grüne Teppich, der nirgends auf zu hören scheint. Wenn man dann aus dem Flieger steigt, kommt es einem zunächst vor, als ob man gegen eine Wand läuft. Die Hitze und Schwüle des Regenwaldes, diese Urkraft der Natur, diese Bemächtigung über jedes Leibliche, zeigt sich als erste Warnung von Natur an Mensch.

Die Jahreszeiten bleiben in Iquitos ein nicht weiter auffallendes Ereignis. Der Frühling findet an einem Septembernachmittag statt, dann ist Hochsommer bis nächstes Jahr. Die Menschen dieser Stadt bleiben lange wach, ihr Rhythmus retardiert, er zieht nach, selbst nach Mitternacht lärmt es aus den Restaurants und Juguerías zwischen Hafenpromenade und Hauptstrasse. Und wenn sich die Stadt gegen zwei, drei Uhr morgens schließlich zur Ruhe bettet, dann machen schon die ersten Vorboten der amazonischen Fauna Anstalten, ihr Tagewerk zu beginnen.

Als ich das erste Mal in den 70er Jahren nach Iquitos kam, da gab es in der Stadt kein Fernsehen, weil die Sendemasten für den Empfang nicht bis zur Hauptstadt Lima reichten. Das Radioprogramm kam aus einem winzigen Studio in der Calle Arica gegenüber vom Kino. Die einzige lokale Tageszeitung Oriente bestand lediglich aus vier wirr bedruckten holzhaltigen Seiten, von denen die dick aufgetragene Druckerschwärze stets an den Fingern des Lesers haften blieb. Sicherlich  waren es auch diese Rückständigkeit und diese Verlassenheit, die einen Reiz dieser Stadt ausmachten. Später als Mitte der 80er Jahre das Satellitenfernsehen seinen Einzug in die Dschungelstadt halten sollte und aus den Bars und Hotellobbys das MTV-Musikprogramm und die endlosen peruanische und brasilianischen Telenovelas dröhnten, da hat Iquitos zugleich ein Stück seiner Unschuld verloren. Medial zumindest.

Zeitweise steigt Iquitos zur reichsten Stadt des Kontinents auf. Zwischen 1890 und 1910 erlebt Iquitos einen märchenhaft anmutenden Wirtschaftsboom. Charles Goodyear hat in den USA gerade mit einem neuartigen Verfahren zur Kautschukvulkanisierung die Epoche des Automobils eingeläutet. Cahuchu nennen die Amazonasindios den weißen Saft, den sie aus den schräg angeritzten Bäumen zapfen, und der nun ein Grundstoff für Autoreifen werden soll. Auf den Kautschukplantagen nahe Iquitos bricht die Hölle aus: Glücksritter, Desperados und zwielichtige Gestalten zieht der Gummirausch in seinen Bann. Indios werden versklavt und Neger aus Barbados verfrachtet, um den wertvollen Rohstoff, den es einzig im Amazonasbecken gibt, abzubauen. Kautschukbarone wie Julio C. Araña, die Familie Del Aguilar, die Cahn, der Cauchero Cohen, die Morey und Familie Barcía leben in Saus und Braus. Sie schlüpfen in feinste italienische Seide, trinken erlesenen französischen Cognac, kaufen Wiener Pianos und venezianische Violinen für das Teatro Alhambra.

Werner Herzog, der Münchener Filmregisseur, hat seinen Film Fitzcarraldo in der Zeit des Kautschukbooms spielen lassen. Herzog meint, diese Stadt habe für ihn etwas „ungemein Erotisches“, und auch der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa spürt in dieser Landschaft die Urgewalt der Natur, die letztendlich doch die Macht der Erotik in all ihrer natürlichen Üppigkeit ist. In der Tat wissen Intimkenner der Szene zu berichten, dass hier die heißblütigsten Señoritas ganz Perus zu Hause sind. Frauen mit solch klangvollen Namen wie Maria de los Angeles oder Adriana, prächtige Siege über Magersucht und Feminismus jedenfalls.

Heute lebt Iquitos von Holzwirtschaft, Petroleum und vielerlei Handel. Böse Zungen verbreiten allerdings die Kunde, der neue Reichtum von Iquitos rieche bedenklich nach Kokain. In der Tat sind die Schneekönige im Wirtschaftsleben Amazoniens deshalb so allgegenwärtig wie der Liebe Gott im Vatikan. Doch wen man auch fragt, keiner weiß Genaues. Matrosen, Flugzeugpiloten, Anwälte stehen auf den Gehaltslisten der Kokainmafia. Politiker und Polizisten sowieso.

Den Tag ausklingen lassen sollte man in der La Casa de Jaime auf der Flussbalustrade am Malecón Maldonado und sich einen paiche a la loretana, das Filet dieses langen, würzigen Paichefisches servieren lassen. Im Jaime lässt sich dieser unverwechselbare Geruch des Flusses, die derbe Macht von Klima und Vegetation und das allabendliche Getriller der Papageien und anderer Amazonasvögel am besten erspüren. Wer erleben möchte, wie die Einheimischen essen, der sollte Sonntagmittags zu Wai Ming an der 28 de Julio gehen, wo in einem riesigen Saal eine einfache und herzhafte chinesische Küche aufgetischt wird.

Ein skurriles Fleckchen Erde ist dieses Iquitos, jener schillernde Denkzettel des Kautschukwahns und der Maßlosigkeit. Man muss lange nach Adjektiven für diese Stadt suchen und kann doch im Grunde nur den Widersinn beschreiben. Diese Stadt scheint wolllüstern und doch unbefleckt, brünstig jedoch leicht verwelkt, maßlos obgleich begrenzt, bedauernswert aber stets sonnig im Gemüt. Im Grunde genommen symbolisiert sie die in Stein gemeißelte Leidensgeschichte des Menschen: zu Anfang leise, dann lebhaft, wohl ordentlich, später wahnsinnig, erst bettelarm, dann unermesslich reich, und ganz zuletzt wiederum ohne nichts.

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  1. don.bolko

    Danke für diesen Artikel über Iquitos. Bin in meiner Jugend in den 60er und 70er Jahren mehrmals in Iquitos gewesen, da ein sehr guten Freund, ein Iquiteño, ein ehemaliger Carl Duisburg-Stipendiat in Hamburg, dort lebt(e), in eine chinesische Familie einheiratete. Sein Schwiegervater hatte einen Laden im Stadtteil Belén. Auf den umliegenden Straßen gab es Märkte, wo man die Köstlichkeiten riechen und verspeisen konnte. Für unsere Touren in den Urwalt kauften wir dort ein, um es gastfreundschaftlichen Menschen mitzubringen, denn es war überraschenderweise für sie im Urwald keinesfalls einfach, an bestimmte Lebensmittel zu kommen. Iquitos war wirklich einzigartig. Dass es dort US-Straßenkreuzer gab, obwohl die Straßen am Stadtrand endeten, war nur eine der Eigenartigkeiten jener „Urwaldinsel“.

  2. Lara Steinhaus

    Vielen Dank für diesen Tipp. Es waren Freunde von uns in Iquitos und die waren sehr fasziniert. Ein Geheimtipp!

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