Mumbai, im Februar 1982; Photo by W. Stock

Mumbai, im Februar 1982

Die Stadt, die früher Bombay hieß, kommt so erbärmlich daher wie keine andere. Chaotisch, laut, elend, überall riecht es nach Unrat und Fäkalien. Selten habe ich eine Metropole gesehen, der aller Lebensmut und Frohsinn so gründlich ausgetrieben ist, wie diese.

Der architektonische Liebreiz, noch aus der Kolonialzeit stammend, verfällt langsam aber sicher und hat längst vor dem misslichen Alltag kapituliert. Statt eines beherzten Aufbäumens gegen das Elend oder einer Auflehnung gegen das Chaos merkt der Besucher hier nur diesen bräsigen Fatalismus des Hinduismus, der mit Schicksalsglaube und Wiedergeburt zu trösten versucht.

Trotz pittoresker Architektur und der wärmenden Sonne kommt in dieser Stadt keine heitere Stimmung auf. Selten habe ich so geschundene Kreaturen gesehen wie auf Mumbais Strassen. Es ist nicht nur Armut, was auszuhalten wäre, sondern an jeder Ecke findet sich das schlimmste Elend und der Kampf ums nackte Überleben.

Die schrecklichsten Bettler sind jene, die sich selbst verstümmelt haben, um Mitleid zu erregen. Beispielsweise jene, die nur noch auf dem Bauch kriechend – oder auf kleinen vierrädrigen Tafelwagen rudern – und ihre Beine nicht mehr benutzen. Außer Dienst allerdings auch nicht mehr.

Beinmuskeln verkümmern, die Beine hängen nach ein paar Wochen leblos wie Gummi herunter und werden Zeit ihres Lebens nicht mehr zu gebrauchen sein. Mit ihrem breiten Skateboard schieben die Bettler sich dann durch die Massen, um abzukassieren, die Beine um Kopf und Körper geschlungen.

Die Bettelei ist in Indien mafiös arrangiert, die Bettler müssen das Erbettelte bei ihrem Boss abliefern. Dabei wird meist in Familienclans gearbeitet, stark hierarchisch, ganz unten mit festen Uhrzeiten und genauem Gebietsschutz.

Es ist fatal, wenn die Leute merken, dass durch Bettelei mehr zu verdienen ist als durch anständige Arbeit. Der Barbier, der Bote, die Schuhputzer, die Wäscherin, das Zimmermädchen, der Zeitungsjunge, die Limonadenverkäufer, all sie sehen, wie viel ihnen bleibt und wie viel mehr all den Bettlern.

Nachts schlafen in den Strassen Mumbais Kompanien von Menschen, die kein Dach über dem Kopf haben. Mensch an Mensch, ganze Strassenzüge lang, ein dünner Körper neben dem nächsten. Aufgereiht wie in einem endlosen Schlafsaal, Ratten huschen munter über sie hinweg, stören tut’s keinen.

In den Gassen der Stadt feiern des nachts Millionen Bakterien wilde Orgien. In den Straßengräben tummeln sich die Ratten, auf der Fahrbahn patrouillieren Polizisten. Das ist Mumbai: unten Ratten, oben Polizei.

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