Auszug aus Wolfgang Stock Schneefall in den Tropen:
Mexiko City, hier sagt man Mexico D.F., erscheint als Stadt der Superlative und der Widersprüche zugleich: Glitzernde Wolkenkratzer neben verwinkelten Stadthäusern mit pflanzenverwöhnten andalusischen Patios. Bankangestellte in ihren gut geschnittenen, blauen Business-Anzügen, die ihren café cortado in der Zona Rosa einnehmen und die Obdachlosen, die sich vor den Geschäften an der Alameda mit ein paar Pappkartons gegen die Kälte ein Lager für die kommende Nacht einrichten.
Der Paseo de la Reforma, sechsspurig in jede Richtung und über 15 Kilometer lang. Die Avenida de los Insurgentes ist mehr als doppelt so lang. Und irgendwo mittendrin steht Christoph Columbus auf seinem Bronzesockel und atmet als Dank der Nation dicke Schwaden Auspuffgase ein.
Bei genauerem Hinsehen lassen sich in dieser Megastadt vielerlei kulturelle Nischen finden, die sich tapfer gegen das Ungemach aus Smog, Schlamm und Elend auflehnen. Der fast britisch wirkenden Chapultepec-Park mit Serpentine und Bootsverleih ist ein sonntägliches Freizeitvergnügen für die ganze Familie, das Monumento de la Raza und die imposanten Murale von Diego Rivera oder José David Siqueiros, die etwas vom nationalen Stolz dieses Volkes von hundert Millionen Bewohnern erahnen lassen.
Und vor allem eines macht das Großartige dieser Nation aus: All die prächtigen Frauen und Männer dieses Landes, die Abermillionen von Menschen, die aus einem eindrucksvollen Fundus von Geschichte und Tradition schöpfen. Ein Fundus, der jedenfalls reichlich genug bemessen scheint, um den widrigen Alltag mit bemerkenswerter Würde zu erleben. Sympathisch bleibt auch, dass dieser Menschenschlag jene Neugierde nicht verloren gibt, die nötig ist, um sich dem Neuen und Ungewohnten zu öffnen.
Der Staat ist so gut wie bankrott. Mexiko hat zu sehr auf Öl und damit auf Sand gebaut. Doch der Mexikaner lebt in der Gegenwart, Zukunftssorgen scheinen ihm fremd. Und mañana ist ein anderer Tag. Wobei dieses mañana mit am morgigen Tag eine eher notdürftige Übersetzung erfährt, denn eigentlich umfasst mañana in Mexiko den Zeitraum von morgen über möglicherweise nächste Woche bis hin zu vielleicht aber auch nie.
Wie dem auch sei, mañana findet sich in Mexiko schon irgendwie ein Ausweg. Diese Lebensphilosophie des Alltags hat sich auch auf die Politik abgefärbt, und man tröstet sich mit der Hoffnung, die nächste, aber ganz gewiss die übernächste Regierung werde es wohl richten. Die Mexikaner ertragen ihr Schicksal mit listiger Demut und dem flotten Spruch: Armes Mexiko, Gott so fern und die USA so nah.
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