Notizen und Anmerkungen von unterwegs

Der große Ernest Hemingway hat sich leer geschrieben

Photo by W. Stock

Im Morgengrauen des 2. Juli 1961, es ist ein Sonntag, beginnt der Tag in Ketchum still und hell. Leise schleicht sich Ernest Hemingway aus seinem Schlafzimmer, Mary schläft noch fest.

Hemingway geht hinunter in den Keller und holt aus dem Waffenschrank sein Lieblingsgewehr, geht wieder hoch in die Diele, nimmt die doppelläufige, in Silber eingelegte Jagdwaffe, lädt sie, setzt beide wuchtige Läufe der Schrotflinte an seine Stirn und drückt ab.

Es ist halb acht. Der Schuss zerreißt die Stille des Morgens im ganzen Tal.

Genau genommen war Ernest Hemingway schon vor dem 2. Juli ein toter Mann. Denn Hemingway besaß nicht mehr die Kraft, gegen sein Erlöschen anzukämpfen. Er konnte nicht mehr, er war am Ende angelangt. Als Kerl, als Ehemann und vor allem als Autor.

Er hatte alles geschrieben, was zu schreiben war: über den Spanischen Bürgerkrieg, über den Stierkampf, über sein Kuba, über die Frauen und den Suff, über die grünen Hügel Afrikas, über Venedig, über die Krauts, die er, na ja, eigenhändig aus Paris davon gejagt hatte, und über das Sterben.

Als er von Kuba nach Ketchum übersiedelte, da hatte er nochmals versucht zu schreiben. Doch da war nichts zu schreiben. Vielleicht hatte er sich leer geschrieben, so wie ein guter Füller einmal keine Tinte mehr hat. Vielleicht waren da aber doch noch genügend Sätze und Geschichten in ihm drin, und er konnte sie nur nicht herauslassen. Es will einfach nicht mehr kommen.

Es ging ihm schlecht. Sein Kopf war schwer vom Alkohol und den vielen Jahren. Sein ehedem aufgekratztes Gesicht blieb seltsam ausdruckslos, seine Augen blickten hilflos und ganz matt, er hatte an Gewicht verloren und war innerhalb weniger Wochen um Jahre gealtert.

Er, der zeitlebens ein größer kräftiger Bauer, stark wie ein Büffel war, wie Kollege James Joyce bewundernd schrieb, sah das Ende vor sich. Gerade er, der geglaubt hatte, nie sterben zu müssen. Wenn man als junger Bursche in den Krieg zieht, hat man die große Illusion der Unsterblichkeit. Die anderen werden getötet, man selbst nicht. Nun war er der Schatten jenes Mannes, der als junger Schreiber und Liebhaber mit Martha Gellhorn das Sun Valley 1939 besucht hatte.

Jetzt war er ein alter, eingefallener, weißhaariger Mann mit zu hohem Blutdruck und Depression. Er hatte schon vorher gedroht, sich selbst zu töten, aber Mary hatte es ihm ausgeredet. Ein paar Tage später versuchte er es wieder, aber er wurde von seinem Hausarzt aufgehalten. In den letzten Monaten fuhr er in die Mayo-Klinik nach Rochester und ließ sich Elektroschocks verabreichen, so als wolle er die Wörter oder zumindest das letzte Stück Lebensmut aus sich herausdonnern. Doch er wusste, er war am Ende angelangt.

Der große Ernest Hemingway ist nach Ketchum, in die Berge Idahos, zurückgekehrt, aber er kann nicht mehr schreiben. Jedoch, er hat mehr geschrieben als ein Mensch zu schreiben im Stande ist. Er hat mehr gesehen als jeder andere Mann und er hat seine Zeit gelebt, wie ein König.

Bitte besuchen Sie zum Thema Ernest Hemingway mein neues Blog Hemingways Welt.

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  1. apple

    Ein toller Artikel! Und was mache ich? Hemingway und W. Stock schreiben wunderbar – und ich sitze schon 8 Minuten vor den nächsten beiden Sätzen! Oh Herr, lass Genie in Strömen regnen und ich eile ins Freie!

  2. Hammer

    Eine kenntnisreiche Analyse. Sehr bewegend geschrieben. Danke!

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