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Winfried Böttcher: Europa 2020 – Von der Krise zur Utopie. Tectum Verlag, 240 Seiten, 24 €, ISBN 978-3-8288-4462-9

Die alte Welt ist in den letzten Jahren von Krisen und Rückschlägen durchschüttelt.  Die Flüchtlingskrise, der Ukraine-Konflikt, Brexit, ein aufkommender Nationalismus, Umwelt- und Klimakrise, jetzt auch Corona. Europa und Brüssel als Lösungsmotor fallen in erschreckender Weise aus, es sind nach wie vor die Nationalstaaten, die sich um Schadensbegrenzung bemühen oder die Scherben aufsammeln. Der Aachener Politologe Winfried Böttcher sieht solche Krisen jedoch auch als Chance. Krisen seien mehrdimensionale historische Erschütterungen, die mit ihrem Veränderungsdruck für den gesellschaftlichen Wandels durchaus notwendig sind.

Der Krisendruck wird in den nächsten Jahren hoch bleiben oder noch steigen. Die Europäische Union bietet allerdings in ihrer derzeitigen Verfassung und Aufstellung keine echte Zukunftsperspektive. Ein Neustart sei das Gebot der Stunde. Der Gegner für eine solche Neuordnung bleibt der Nationalstaat, er ist die eigentliche Ursache für die Systemkrise, in der sich die EU befindet.

Den Herausforderungen der Digital-Epoche sind die Nationalstaaten nicht gewachsen. Die Märkte agieren global, sind schnell und wendig, optimieren ohne Rücksicht über alle Grenzen ihre Absatzchancen. Die Staaten hingegen sind nach wie vor schwerfällig und gelähmt, erweisen sich im Hase und Igel-Duell zu oft als Verlierer. In diesem ungleichen Wettbewerb steht Europa hilflos da, ohne Orientierung, ohne Perspektive und ohne Zuversicht.

Die Europäische Union mit ihren immer noch mächtigen Nationalstaaten befindet sich in einer systemischen Existenzkrise, sie droht institutionell, ökonomisch, sozial und wertorientiert zu scheitern. Die Defizite wurden, so lässt Winfried Böttcher anklingen, bereits bei der Gründung des europäischen Projekts gelegt. Vor allem bei der Fehlkonstruktion unzureichender Gewaltenteilung und der damit einhergehenden Dis-Balance und der ungenügenden Kontrolle.

Die Völker Europas zu vereinen, war und ist eine brillante Idee, besonders nach der dunklen Heimsuchung zweier Weltkriege. Dieses Friedensprojekt, als Wirtschaftsunion gestartet, hat jedoch nie sein volles Potenzial entfalten können. Von den Erbauern der ersten Stunde war Europa gut gedacht, aber von den Nachfolgern schlecht gemanagt, politisch ist das Projekt ein Torso geblieben. Vor allem liegt dies an der fehlenden Bereitschaft der Nationalstaaten, nationale Interessen dem Gemeinschaftsinteresse unterzuordnen.

Die kühne Schlussfolgerung aus der Systemkrise und einer reformunfähigen Europäische Union sei, das Projekt ganz neu zu definieren. Winfried Böttchers disruptiver Vorschlag ist, Europas Architektur neu anzulegen mit dem Ziel einer regionalisierten Republik. Ein regionales Selbstverstehen als Wurzel der europäischen Identität. Erreicht werden soll eine neue Qualität durch die konsequente Anwendung der Subsidiarität als Strukturprinzip. Diese Art Demokratie beginnt in einer kleinräumigen Gesellschaftsordnung von unten.

Der Europa-Wissenschaftler Winfried Böttcher, ein Schüler von Klaus Mehnert, ist emeritierter Professor am Institut für Politische Wissenschaft (IPW) der RWTH Aachen im Bereich Internationale Beziehungen. Enthusiasmiert durch die Erfolge im Zusammenwachsen der Drei-Länderregion Aachen-Lüttich-Maastricht entwirft der Aachener Wissenschaftler die Utopie einer europäischen Republik der Regionen. 

Auf ein solches Europa der Regionen ließe sich ein föderatives Modell aufbauen mit einer von der Basis kommenden subsidiären Dynamik unter Beibehaltung kultureller Autonomie. Gemeinsam bilden die „Vereinten Regionen Europas“ ein neues variables Gesellschaftssystem heraus. Ein solches Europa der Regionen würde als lebendiger Regionalismus wirken, nahe am Alltag der Menschen, der mit solidarischer und partizipativer Beteiligung aller Betroffenen die anfallenden Probleme zu lösen versucht.

Böttchers Modell besitzt Charme. Bereits heute würde es zur Befriedung regionaler Konflikte – beispielsweise in Spanien oder auf dem Balkan – beitragen. Regionale Identität und eine vitale Subsidiarität ließen wenig Attraktion für verirrten Nationalismus und billigen Chauvinismus. Die Region als Heimat, es ist ein Ideal, das der Nationalstaat im positiven Sinn nicht zu füllen vermag.

In seinem mit zahlreichen innovativen Gedankengängen und anregenden Belegen gespickten Buch entwirft Winfried Böttcher mit heißem Herz und scharfsinniger Beweisführung eine Vision in Zeiten bleierner Schwere. Es wäre gut, wenn in Berlin, in Brüssel, in den Parlamenten, den Hochschulen und in den Medien der Diskurs über solch neue Ansätze in Gang kommen würde. Vielleicht erscheint manchen Akteuren Böttchers Utopie als ein wenig verwegen, sie ist jedoch weniger verwegen, als wenn wir uns mit der existierenden Erstarrung abfinden würden.

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