Buenos Aires, im Januar 1988; Photo by W. Stock

Buenos Aires, und das passt zu dieser Stadt, kann sich der wohl schönsten Friedhöfe der Welt rühmen. Und die Friedhöfe der argentinischen Hauptstadt sind nicht als versteckte Plätze des Verdrängten oder als penibel gestutzte Gartenanlagen angelegt.

Nein, Chacarita ist ein riesiges Areal mit breiten Wegen, ein weiterer Stadtteil mit Strassen und Gassen, wenn man so will. Hier reiht sich eine wuchtige Gruft an die andere, wie durch eine Fußgängerszone wandert man von einer Grabfigur zur nächsten.

Und so manche Marmorfigur kommt einem so lebensecht vor’s Auge, so als wolle der Tote im nächsten Augenblick seiner Gruft entsteigen und erneut ins Leben treten. Aber auch dies stellt sich, unter prachtvoll blauem Himmel am Meere, als behagliche Illusion der Sinne heraus.

Neben dem Sänger Carlos Gardel liegt auch der verehrte Diktator, der General Juan Domingo Perón auf Chacarita. Dessen hohe dunkle Gruft zieht jedoch bei weitem nicht so viel Aufmerksamkeit auf sich wie die das helle Grab von Carlitos, dem Tangogott. Peróns allseits verehrte Frau Evita, jene Heilige der Hemdlosen, weilt hingegen auf Recoleta.

An dieser Pilgerstätte der Lebenden spürt man eine eigenartige Melodie aus Verbitterung am Diesseits und eine verschämte Träumerei vom Jenseits. Ja, die Toten dieser Stadt scheinen irgendwie noch ein wenig lebendig zu sein und so manch Lebender kokettiert ein bißchen zuviel mit dem Jenseits. Der Takt dieser Stadt scheint einerseits getrieben von dem Wunsch nach dem vollen Leben, andererseits aber auch besessen von der Sehnsucht nach dem Untergang.

Wen wundert es da noch, dass die Stadt mit der höchsten Dichte an Psychoanalytikern, Psychologen und sonstigen Seelenklempnern nicht New York heißt, sondern dass dies merkwürdigerweise jene stets frühlingshafte Metropole am Südzipfel des amerikanischen Kontinents ist. Es ist diese betörende Stadt, die sich regelmäßig auf die Couch legen muss, weil es in ihr wohlmöglich so viele menschliche Götter und so zahlreiche korrupte Heilige gibt.

Vielleicht kommen in dieser Stadt die Friedhöfe eben gerade deshalb so quietschtfidel daher, weil die Menschen jeden Tag nahe dem Absturz balancieren. Vielleicht prägen die Friedhöfe am ehesten die Philosophie dieser Stadt, dieser Stadt Buenos Aires, die keine rechte Vergangenheit besitzt und der man für die Zukunft auch nicht so richtig über den Weg trauen mag.

Und die Bewohner dieser in ihrer Seele zerrissenen Metropole machen gute Miene zum verzweifelten Spiel: Seit Jahrzehnten sind sie geübt, mit dem Ewigen zu kokettieren. Vielleicht nicht die schlechteste Art, dem Schicksal die Stirn zu bieten.

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