Notizen und Anmerkungen von unterwegs

Kategorie: Argentinien

Der Fussball-Gott kann nur Barcelona

Photo by FC Barcelona/Departament de Premsa

In der Primera División hat Lionell Messi einen neuen Rekord aufgestellt. 50 Tore in einer Saison. Das gab es noch nie, noch nie in Spanien, noch nie in einer anderen europäischen Liga. 50 Tore in 37 Spielen. Und am letzten Spieltag am Samstag bei Betis Sevilla kann Leo die Latte nochmals höher legen.

Einen Spieler wie Lionel Messi hat es im europäischen Fussball noch nicht gegeben. Diese Ballführung, dieser Spielwitz, seine Soli, die Torgefährlichkeit, diese zielgerichtete Kreativität und Intelligenz, diese technische Leichtigkeit und diese Freude am Spiel. Der FC Barcelona darf sich glücklich schätzen, einen solchen Spieler in seinen zu besitzen. Aber auch Leo Messi darf sich glücklich wähnen, bei solch einen Verein zu spielen.

Denn Messi, der Fusball-Gott, kann nur hier seine Wirkung entfalten, hier in der katalanischen Hafenstadt, hier in diesem Verein. In der argentinischen Nationalmannschaft kriegt er kein Bein auf den Rasen. Und wahrscheinlich würde Messi auch in keinem anderen Verein, sagen wir mal Manchester City, funktionieren.

Die Antwort, warum das so ist, erklärt sich durch drei Umstände. Ein Grund liegt in der Biografie des Leo Messi. Mit 13 Jahren wanderten die Eltern mit Leo nach Spanien aus, der Junge litt unter Wachstums- und Hormonstörungen, in Argentinien konnten die Eltern, einfache Leute, die Medizin nicht zahlen.

In Barcelona übernahm der Verein

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Mein Südamerika

Dies ist ein Auszug aus dem Buch von Wolfgang Stock Schneefall in den Tropen:

Wer sich in den weichen Knäuel frisch gepflückter Baumwolle wälzt, wer die fröhliche Unbekümmertheit der Menschen erlebt und wer das ultramarinblaue Wasser des Pazifiks vor Augen sieht – der kommt so schnell nicht mehr los von diesem Kontinent. Wenn man mit dem Flugzeug das ach so polierte Europa hinter sich lässt, so taucht man urplötzlich ein in eine merkwürdige Welt: in eine ansteckende Ausgelassenheit des Daseins ebenso wie auch in ein durch den Überlebenskampf gezeichnetes nacktes Elend.

Der Reisende erlebt einen Kosmos von beeindruckender Schönheit und beispielloser Bedürftigkeit zugleich. Die Wirklichkeit Lateinamerikas stellt sich ihm so facettenreich dar wie seine Landschaftszonen: das kalte, karge Hochgebirge, die berauschende Schwüle im Regenwald, das erdrückende Gedröhn in den Großstädten oder der laszive Charme pittoresker Fischerdörfer.

Und auch die volkswirtschaftlichen Entwicklungsstufen erlebt dieser Halbkontinent nicht schlüssig und in historischer Abfolge, sondern zeitgleich als eine Art chaotischer Mischzustand. Verarmte Kleinbauern, feiste Industriebarone und entrückte Internet-Yuppies laufen da nebeneinander her wie drei ungleiche Rivalen, die nichts von einander wissen möchten und sich eigentlich auch nichts zu sagen haben.

Darüber hinaus lassen sich

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Die putzmuntere Verzweiflung des Tango

Grafik by Fernando Tejeda

Buenos Aires, im Dezember 1987

In den Jugendstil-Cafés, die in den Querstrassen der Calle Lavalle zu finden sind, glaubt man sich in die Wiener Kaffeehäuser mit ihrer ornamentierten Wandmalerei um 1900 zurück versetzt. An den kleinen dunklen Holztischen trinken jung und alt gemächlich ihren café cortado und erörtern die Lage im allgemeinen und besonderen.

Trotz aller Krisen haben sich die Argentinier die Lust am lebhaften Diskurs bewahrt und können stundenlang in ihre Tageszeitungen Clarín und La Nación hineinschauen, die zu den besten des Kontinents gehören. Wenn jedoch der Barbesitzer die richtige Tangoplatte auflegt, springen einige ältere Herren auf, legen ihren Arm um die auch nicht mehr taufrische Partnerin und tänzeln leichtfüßig zwischen den Tischen die filigranen und ruckartigen Bewegungen des Tango.

Es sind fast immer die älteren Ehepaare, die auf diese Bühne der kleinen Alltagsfreude stürmen, und so die Erinnerung an die goldene Zeit wach zu halten versuchen. Tango, so sagt man, sei ein trauriger Gedanke, den man tanzen kann. Doch noch mehr ist er

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Horacio Politi malt sein Buenos Aires

Buenos Aires, im Dezember 1987; Photo W. Stock

Buenos Aires, im Dezember 1987; Photo W. Stock

Das Haus des Malers hat schon bessere Zeiten gesehen, und sein Bewohner, man merkt es schnell, wohl auch. Als ich Horacio Politi im Dezember 1987 in Buenos Aires aufsuche, spürt man, dass auch Engel auf den Boden fallen.

Das sonnige Leben, der Selbstzweifel vielleicht oder womöglich der Ehrgeiz haben ihm ein gutes Stück seiner Zuversicht ausradiert. Er steht da, mit weißen Bart und höchst vergnügt, an seiner Staffelei im Caminito von La Boca, dem von italienischen Einwanderern geprägten farbenfrohen Hafenviertel der argentinischen Hauptstadt.

Jetzt zählen die zwei Nationalpreise für Malerei nicht mehr, die man ihm angetragen hat, besitzt auch die Tatsache keine Bedeutung, dass er lange Jahre als der Picasso Argentiniens gegolten hat. All das ist weit weg. Jetzt hält er nur noch die Fahne hoch, die ein wenig nach billigem Fusel riecht.

Daniel Horacio Politi ist ein echtes Kind dieser Stadt, hier wurde er 1928 geboren. Die Malerei hat er bei Didimo Nardini und Enrique de Larragaña studiert, das Zeichnen bei Lajos Szalay. Unter den Picasso-Schülern ist er immer einer der eifrigsten und talentiertesten gewesen. Denn er kombiniert gekonnt den feinen und doch opulenten Strich des Maestro mit Porteño-Motiven.

Er lädt mich zu sich nach Hause um die Ecke ein, in ein bröckelndes Bauwerk mit wüsten politischen Graffitis und Parolen, quer über Hinterhöfe und hinter mit Unkraut bewucherten Bahngleisen. Seine schwarzhaarige Frau schaut mich zerknirscht und voller Gram an und man möchte mit arger Müh ahnen, dass hinter den zahlreichen Falten und all der Lebenspein einst eine hübsche Person steckte.

In einer Abstellkammer zieht Maestro Politi aus Falttaschen Dutzende von Aquarellen, Kreidezeichnungen und Wachsbilder hervor, die er allein in den letzten Monaten gemalt hat. Vieles erscheint von mittlerem Belang, doch einiges ist von erstklassiger Güte: die versunkene Melancholie des einsamen Bandoneon-Spielers, das Tango-tanzende Liebespaar unter der La-Boca-Zugbrücke. Oder die laszive Herausforderung Evas mit Apfel im Paradies.

Horacio Politi malt viel, er malt den Liebreiz und die Eigenheit von Buenos Aires und seinen Bewohnern, er malt die Verlassenheit und das Leben, ein Leben, das langsam zerbröselt, so wie Staub zwischen den Fingern zerrinnt. Politi hat sein karges Leben in den letzten Jahren merklich nach innen gekehrt. Da überrascht es nicht, dass nun zunehmend religiöse Motive in seine Werke einfließen.

Wir sitzen in seinem kleinen fensterlosen Atelier und an uns vorüber rauscht die Einmaligkeit dieser Stadt. Zu Papier gebracht von einem begnadeten Künstler, der all die Höhen und Tiefen eines Menschenlebens erfahren hat, und vielleicht auch ein bisschen mehr. Als mir Horacio Politi die Hand zum Abschied fest drückt, gehe ich mit der Empfindung, dass dieser Maler typisch ist für diese Metropole am Mündungsdelta von La Boca. Typisch für eine Stadt, die an guten Tagen beschwingt und ausgelassen daher kommt, sich in den trüben Stunden aber in aller Armseligkeit und voller Schwermut durch den Tag schleppt.

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Chacarita, Treffpunkt der korrupten Heiligen

Buenos Aires, im Januar 1988; Photo by W. Stock

Buenos Aires, und das passt zu dieser Stadt, kann sich der wohl schönsten Friedhöfe der Welt rühmen. Und die Friedhöfe der argentinischen Hauptstadt sind nicht als versteckte Plätze des Verdrängten oder als penibel gestutzte Gartenanlagen angelegt.

Nein, Chacarita ist ein riesiges Areal mit breiten Wegen, ein weiterer Stadtteil mit Strassen und Gassen, wenn man so will. Hier reiht sich eine wuchtige Gruft an die andere, wie durch eine Fußgängerszone wandert man von einer Grabfigur zur nächsten.

Und so manche Marmorfigur kommt einem so lebensecht vor’s Auge, so als wolle der Tote im nächsten Augenblick seiner Gruft entsteigen und erneut ins Leben treten. Aber auch dies stellt sich, unter prachtvoll blauem Himmel am Meere, als behagliche Illusion der Sinne heraus.

Neben dem Sänger Carlos Gardel liegt auch der verehrte Diktator, der General Juan Domingo Perón auf Chacarita. Dessen hohe dunkle Gruft zieht jedoch bei weitem nicht so viel Aufmerksamkeit auf sich wie die das helle Grab von Carlitos, dem Tangogott. Peróns allseits verehrte Frau Evita, jene Heilige der Hemdlosen, weilt hingegen auf Recoleta.

An dieser Pilgerstätte der Lebenden spürt man eine eigenartige Melodie aus Verbitterung am Diesseits und eine verschämte Träumerei vom Jenseits. Ja, die Toten dieser Stadt scheinen irgendwie noch ein wenig lebendig zu sein und so manch Lebender kokettiert ein bißchen zuviel mit dem Jenseits. Der Takt dieser Stadt scheint einerseits getrieben von dem Wunsch nach dem vollen Leben, andererseits aber auch besessen von der Sehnsucht nach dem Untergang.

Wen wundert es da noch, dass die Stadt mit der höchsten Dichte an Psychoanalytikern, Psychologen und sonstigen Seelenklempnern nicht New York heißt, sondern dass dies merkwürdigerweise jene stets frühlingshafte Metropole am Südzipfel des amerikanischen Kontinents ist. Es ist diese betörende Stadt, die sich regelmäßig auf die Couch legen muss, weil es in ihr wohlmöglich so viele menschliche Götter und so zahlreiche korrupte Heilige gibt.

Vielleicht kommen in dieser Stadt die Friedhöfe eben gerade deshalb so quietschtfidel daher, weil die Menschen jeden Tag nahe dem Absturz balancieren. Vielleicht prägen die Friedhöfe am ehesten die Philosophie dieser Stadt, dieser Stadt Buenos Aires, die keine rechte Vergangenheit besitzt und der man für die Zukunft auch nicht so richtig über den Weg trauen mag.

Und die Bewohner dieser in ihrer Seele zerrissenen Metropole machen gute Miene zum verzweifelten Spiel: Seit Jahrzehnten sind sie geübt, mit dem Ewigen zu kokettieren. Vielleicht nicht die schlechteste Art, dem Schicksal die Stirn zu bieten.

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Carlos Gardel singt jeden Tag besser

Photo by W. Stock

Buenos Aires, im Januar 1988

Der Gott der Porteños ist schon lange tot. Genauer gesagt, seit 1935, als er bei einem Flugzeugabsturz in Medellín ums Leben kam. Und doch scheint dieser Tote lebendiger zu sein als so mancher in dieser Stadt.

Man kann ihn nicht übersehen in Buenos Aires. Sein Foto baumelt wie eine Duftkerze in den Taxis, er klebt als Postkarte in der Kante des Friseurspiegels oder man betritt eine U-Bahn-Station, die seinen Namen trägt.

Und das riesige weiße Mausoleum des Tangosängers auf dem Chacarita-Friedhof ist eine Pilgerstätte, die mit allerlei Devotionalien der Ehrerbietung bestückt ist und stets von Bewunderern umlagert wird. Cada dia canta mejor, wohl wahr, mit jedem Tag singt er besser, steht als Losung auf einem goldenen Schild.

Carlos Gardel gilt in Buenos Aires als Gott des Tangos, was wahrscheinlich aber untertrieben ist. Denn eher ist er Gott, Jesus und Moses in einer Person. Wen sollte man hier sonst verehren? Die Politiker? Korrupt bis auf die Knochen. Manager? Schmierig und gierig. Schauspieler? Ziemlich bedeutungslos. Nein, nein, der Tango, diese traurige und doch irgendwie trotzige Musik eignet sich wunderbar, die unaufhörlich platzenden Träume des argentinischen Bürgers zu beklagen.

Der Tango, der um die Wende zum 20. Jahrhundert in den Matrosenkaschemmen des La Boca-Hafenviertels entstanden ist, beschreibt die melancholische, teils resignative, aber auch stolze Haltung der sozial Benachteiligten. Im Tango klagt der kleine Mann über seine Not und das Schicksal, das es nicht gerade gut mit ihm gemeint hat. Der Tango jammert über das fehlende Geld und den verbleichenden Glanz der Schönheit, über den Krach mit einer Frau, die Bitternis einer nicht erhörten Liebe.

Auf die Kernbotschaft verdichtet, beschreibt der Tango das erschreckte Aufwachen aus einem schönen Traum. Wie das Erwachen aus dem Traum vom Reichtum, der Illusion von Liebe und dem Traum, der zwischen Geburt und Tod liegt. Der bekannte Gardel-Tango Adios Muchachos ist so eine typische wehmütige und bockige Abrechnung mit dem hiesigen Leben, in der Botschaft ähnlich wie Frank Sinatra My Way singt. Und bei beiden könnte es auch heißen: Lebt wohl, Ihr Scheißkerle, ich mach mich davon, und Ihr dürft mich mal alle mal kräftig!

Sicherlich ist der Tango ein trauriger Gedanke, den man tanzen kann. Noch mehr ist er aber ein stummer Dialog zwischen Wunsch und Wirklichkeit, zwischen Mann und Frau, zwischen Nähe und Fremdheit. Für die Argentinier als Nation drückt der Tango den kollektiven Wunsch nach Geborgenheit und Heimat aus, eine Träumerei, die von der Wirklichkeit so schändlich hintertrieben wird. Und es ist der tote Carlitos, der von dieser Utopie singt. Mit jedem Tag besser.

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Mi Buenos Aires

Photo by W. Stock

Buenos Aires, im Januar 1988

Stünde ich vor der kniffligen Entscheidung, die schönste Metropole dieser Welt bestimmen zu müssen, dann würde wohl vieles auf diese Stadt zulaufen. Klima, Gastronomie, Musik, Literatur, Fussball, Lebendigkeit – Argentiniens Hauptstadt beflirtet den Besucher heftig mit ihren Reizen. Kommt man nach Buenos Aires, so  merkt man der Stadt schnell an, wie glanzvoll ihre Vergangenheit war. Man wird erschlagen von prächtigen Fin de siècle-Bauten, breiten Avenuen und monumentalen Denkmälern.

Noch immer sieht man dieser Metropole den bürgerlichen Pomp und Prunk großer Jahre an. Jedoch verspürt man genauso schnell, dass ihre Gegenwart ein wenig zweifelhaft scheint und auch der nahen Zukunft mag man nicht so recht über den Weg trauen.

Fast hat man vergessen, dass Argentinien in den 40er Jahren eines der reichsten Länder dieses Erdballs war. Jedoch haben unfähige und korrupte Regierungen dieses Land der weiten Getreidefelder und der riesigen Rinderherden langsam aber sicher aus voller Blüte in ein Armenhaus der Dritten Welt herunter gewirtschaftet.

Als ich Mitte der 80er Jahre zum ersten Mal Buenos Aires besuche, ist dies eine Großstadt, in der so vollgestopfte Buchhandlungen zu finden sind wie sonst nirgendwo in Amerika. In jenen Tagen brauchen sich die Theater, die Kinopaläste und Musikhallen nicht vor denen Italiens oder Frankreichs zu verstecken. Diese Stadt bleibt dem Genuss und den schönen Künsten zugeneigt, ihre DNA scheint ein sonnenverwöhnter Mix aus savoir vivre und la dolce vita. Also fast das Paradies.

An den Sonntagen breitet der Trödelmarkt in San Telmo, dem Künstler- und Studentenviertel, seine Waren aus. An angestaubten Folianten und wieder blank polierten Grammophonen lässt sich ablesen, dass diese Nation einst von Einwanderern gegründet worden ist. Mitten auf dem Platz stehen die Alten, die hier nicht Schach oder Domino spielen, sondern den Tango singen.

Meist in ein angenehm temperiertes Wetter gehüllt, kommt diese Stadt an guten Tagen daher wie eine tropische Mischung aus Florenz und Paris. Buenos Aires erscheint mir als Weltstadt, die in ihrem Zentrum aussieht wie die schönste aller europäischen Metropolen, deren blankes Elend jedoch nur drei Straßenzüge weiter beginnt und sich endlos in die Peripherie hineinbeißt.

Wenn man in diesen besseren Jahren abends ein Restaurant besucht und sein Asado, die über dem offenen Feuer gegrillte Rinderlende, bestellt, so bekommt man auf einem großen Teller das Fleisch, das zudem noch über den Tellerrand schlägt und erst auf einem zweiten, etwas kleinerem Teller werden die Beilagen, meist Kartoffeln und Gemüse, gereicht.

Wie eine Oase der Lebenslust kommt einem diese Stadt entgegen. In den Cafés, die in den Nebengassen der Calle Lavalle zu finden sind, trinken die Argentinier, jung und alt, reich oder verarmt, gemächlich ihren café cortado und vielleicht auch den einen oder anderen roten Pinot Negro gegen die schlechten Politiker.

Mi Buenos Aires querido, heißt das Lied dieser Stadt, quando te vuelvo a ver. Mein geliebtes Buenos Aires, wann werde ich dich wiedersehen. Und der Tango fragt, aber eigentlich scheint jene Frage mehr ein Bitten und Betteln. Ein Wunsch jedenfalls, der in der Erkenntnis mündet, diese Stadt möge einen niemals loslassen. Nicht in den guten und auch nicht in den düsteren Tagen.

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Der General lebt

Auszug aus Wolfgang Stock Schneefall in den Tropen:

Wer die lange, breite baumgesäumte Allee von Ezeiza-Flughafen ins Stadtzentrum entlang fährt, der sieht an den grauen Mauern der Fabriken und Häuser recht seltsame Parolen gepinselt. In den allermeisten Metropolen dieses Kontinents findet man mehr oder weniger geistreiche Losungen wie Nieder mit den Bonzen oder Hoch lebe die Partei der Arbeiterklasse oder zumindest Wählt MüllerMeierSchulze.

Nicht so in dieser Stadt. Wer sich in den tristen Vororten von Buenos Aires bewegt, der kriegt höchst merkwürdige Sätze zu lesen. Mi General, tu pueblo cumple steht auf den langen Wänden der verfallenden Industrieanlagen, Mein Gereral, dein Volk hält, was es Dir versprochen hat. Oder man kann auf verwitterten Wohnblöcken lesen Siempre contigo, was auf Deutsch denn – fast religiös – meint: Immer mit Dir.

Von diesem General, der dort so hymnisch verehrt wird, erhält man, sollte man Menschen auf der Strasse befragen, höchst widersprüchliche Einschätzungen. Für die einen war er ein Politiker, der viel für das Volk getan hat, einer der für die Blüte dieses Landes gesorgt hat, jemand, dem auch die Armen, die Descamisados – die Hemdlosen – nicht einerlei waren. Für andere bleibt jener Juan Domingo Perón ein ausgekochter Schuft, ein gewissenloser Lump, ein aufgeblasener Operetten-Duce bestenfalls, in jedem Fall ein größenwahnsinniger Parvenue, der dieses herrliche Land in Grund und Boden gewirtschaftet hat.

Alleine schon der Name von Peróns Partei mutet höchst kurios an. Partido Justicialista nennt sie sich, was flott übersetzt Gerechtigkeitspartei heißen kann, manche sagen – nach europäischem Maßstab wohl Richtung aufrechte Sozialdemokraten. Andere meinen, die PJ sei eine typische Klientel-Partei, geführt von sonderbaren Pampa-Caudillos wie Perón oder Carlos Saúl Menem. Wie dem auch sei, sollte es einmal eine Trophäe für den blumigsten Parteinamen Lateinamerikas geben, die Partido Justicialista würde einen hübschen Silberpokal gewinnen – knapp geschlagen von der mexikanischen PRI, der Partei der Institutionalisierten Revolution.

Es gibt wohl keinen Politiker seiner Generation in Amerika, der von seinem Volk noch so verehrt wird wie dieser General Juan Domingo Perón. Nicht Lázaro Cárdenas in Mexiko, nicht Trujillo in der Dominikanischen Republik und auch nicht Franklin Delano Roosevelt in den USA.

Als Perón 1946 zum Präsidenten Argentiniens gewählt wird, regiert er eines der reichsten Länder des Erdballs. Während Europa im Wahnsinn des Zweiten Weltkriegs versinkt, verhelfen Argentinien eine fruchtbare Landwirtschaft und eine fleißige Arbeiterschaft zu nie gekanntem Wohlstand. Denn dieses sonnige Land besitzt alles in Hülle und Fülle: Getreidefelder, soweit das Auge blicken kann, Fischfanggründe im Südatlantik, Zitrusfrüchte im Norden, Erdöl und Mineralien, und vor allem jenes unerschöpfliche Fleischreservoir, für das die ausgedehnten Rinderfarmen im Süden des Landes sorgen.

Doch bei seiner Wiederwahl 1952 hat General Perón durch Enteignung und Verstaatlichung das Land bereits an den wirtschaftlichen Abgrund gedrückt. Statt eines florierenden wirtschaftlichen Wettbewerbs wächst nun die nach Pfründen trachtende Bürokratie, eine Hydra der Korruption, aus deren Fängen sich Argentinien nicht mehr hat befreien können – bis heute. Ein Militärputsch treibt den gescheiterten General 1955 ins Exil. Doch die Erinnerung an die guten Tage der Herrschaft Peróns bleibt bei vielen Argentiniern während der nun folgenden, fast 30 Jahre währenden, blutigen Militärdiktatur wach.

Als Perón 1973 aus seinem Madrider Exil im Triumphzug nach Buenos Aires einzieht, da wird er noch einmal als Heilsbringer gefeiert, obwohl der 78-Jährige da schon nicht mehr seine fünf Sinne beisammen hat. Aber sein Statthalter als Präsident, der sympathische Kinderarzt Hector Cámpora tritt zurück, damit für den greisen General der Weg frei ist. Perón wird mit überwältigender Mehrheit zum Präsidenten gewählt. Mochten auch die Tatsachen noch so gegen diesen Mann sprechen, das Volk liegt ihm abermals zu Füssen.

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