Notizen und Anmerkungen von unterwegs

Carlos Gardel singt jeden Tag besser

Photo by W. Stock

Buenos Aires, im Januar 1988

Der Gott der Porteños ist schon lange tot. Genauer gesagt, seit 1935, als er bei einem Flugzeugabsturz in Medellín ums Leben kam. Und doch scheint dieser Tote lebendiger zu sein als so mancher in dieser Stadt.

Man kann ihn nicht übersehen in Buenos Aires. Sein Foto baumelt wie eine Duftkerze in den Taxis, er klebt als Postkarte in der Kante des Friseurspiegels oder man betritt eine U-Bahn-Station, die seinen Namen trägt.

Und das riesige weiße Mausoleum des Tangosängers auf dem Chacarita-Friedhof ist eine Pilgerstätte, die mit allerlei Devotionalien der Ehrerbietung bestückt ist und stets von Bewunderern umlagert wird. Cada dia canta mejor, wohl wahr, mit jedem Tag singt er besser, steht als Losung auf einem goldenen Schild.

Carlos Gardel gilt in Buenos Aires als Gott des Tangos, was wahrscheinlich aber untertrieben ist. Denn eher ist er Gott, Jesus und Moses in einer Person. Wen sollte man hier sonst verehren? Die Politiker? Korrupt bis auf die Knochen. Manager? Schmierig und gierig. Schauspieler? Ziemlich bedeutungslos. Nein, nein, der Tango, diese traurige und doch irgendwie trotzige Musik eignet sich wunderbar, die unaufhörlich platzenden Träume des argentinischen Bürgers zu beklagen.

Der Tango, der um die Wende zum 20. Jahrhundert in den Matrosenkaschemmen des La Boca-Hafenviertels entstanden ist, beschreibt die melancholische, teils resignative, aber auch stolze Haltung der sozial Benachteiligten. Im Tango klagt der kleine Mann über seine Not und das Schicksal, das es nicht gerade gut mit ihm gemeint hat. Der Tango jammert über das fehlende Geld und den verbleichenden Glanz der Schönheit, über den Krach mit einer Frau, die Bitternis einer nicht erhörten Liebe.

Auf die Kernbotschaft verdichtet, beschreibt der Tango das erschreckte Aufwachen aus einem schönen Traum. Wie das Erwachen aus dem Traum vom Reichtum, der Illusion von Liebe und dem Traum, der zwischen Geburt und Tod liegt. Der bekannte Gardel-Tango Adios Muchachos ist so eine typische wehmütige und bockige Abrechnung mit dem hiesigen Leben, in der Botschaft ähnlich wie Frank Sinatra My Way singt. Und bei beiden könnte es auch heißen: Lebt wohl, Ihr Scheißkerle, ich mach mich davon, und Ihr dürft mich mal alle mal kräftig!

Sicherlich ist der Tango ein trauriger Gedanke, den man tanzen kann. Noch mehr ist er aber ein stummer Dialog zwischen Wunsch und Wirklichkeit, zwischen Mann und Frau, zwischen Nähe und Fremdheit. Für die Argentinier als Nation drückt der Tango den kollektiven Wunsch nach Geborgenheit und Heimat aus, eine Träumerei, die von der Wirklichkeit so schändlich hintertrieben wird. Und es ist der tote Carlitos, der von dieser Utopie singt. Mit jedem Tag besser.

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  1. Leon Binding

    Carlos Gardel ist ein Mythos. Er war der Höhepunkt des Tango. Nach ihm gab es keinen Sänger mehr wie ihn.

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