Dies ist ein Auszug aus dem Buch von Wolfgang Stock Schneefall in den Tropen:

Wer sich in den weichen Knäuel frisch gepflückter Baumwolle wälzt, wer die fröhliche Unbekümmertheit der Menschen erlebt und wer das ultramarinblaue Wasser des Pazifiks vor Augen sieht – der kommt so schnell nicht mehr los von diesem Kontinent. Wenn man mit dem Flugzeug das ach so polierte Europa hinter sich lässt, so taucht man urplötzlich ein in eine merkwürdige Welt: in eine ansteckende Ausgelassenheit des Daseins ebenso wie auch in ein durch den Überlebenskampf gezeichnetes nacktes Elend.

Der Reisende erlebt einen Kosmos von beeindruckender Schönheit und beispielloser Bedürftigkeit zugleich. Die Wirklichkeit Lateinamerikas stellt sich ihm so facettenreich dar wie seine Landschaftszonen: das kalte, karge Hochgebirge, die berauschende Schwüle im Regenwald, das erdrückende Gedröhn in den Großstädten oder der laszive Charme pittoresker Fischerdörfer.

Und auch die volkswirtschaftlichen Entwicklungsstufen erlebt dieser Halbkontinent nicht schlüssig und in historischer Abfolge, sondern zeitgleich als eine Art chaotischer Mischzustand. Verarmte Kleinbauern, feiste Industriebarone und entrückte Internet-Yuppies laufen da nebeneinander her wie drei ungleiche Rivalen, die nichts von einander wissen möchten und sich eigentlich auch nichts zu sagen haben.

Darüber hinaus lassen sich in Lateinamerika auch die politischen Herrschaftssysteme in allen Arten und Abarten entdecken. So findet und fand man auf den Präsidentenstühlen Ehrenmänner wie den Wirtschaftsprofessor Fernando Henrique Cardoso in Brasilien, nur ein paar Längengrade entfernt aber auch politisch Verrückte wie den Venezolaner Hugo Chavez oder auch ganz Irre wie einen Abdala Bucaram in Ecuador.

Man kann eine stille Demokratie wie Costa Rica entdecken, ebenso wie einen sonnigen Kommunismus unter Palmen. In Paraguay darf über Jahrzehnte hinweg ein tumber deutschtümelnder Patriarch sein Unwesen treiben, eine Nachtklubtänzerin bekommt die argentinische Präsidentenschärpe umgelegt und in den peruanischen Präsidentenpalast zieht ein Japaner ein. Von der dramatischen Oper über die leichte Operette bis hin zum überdrehten Schwank – die politische Bühne Lateinamerikas führt so ziemlich jedes Genre im Programm.

Es bleibt in diesem Zusammenhang gleichwohl tröstlich, dass der Zauber dieses Erdteils nicht nachlassen will. Die pompöse Meisterleistung der Natur, wie auch jener kulturelle Elan, der diesen Kontinent so auszeichnet, und erst recht die Lebensfreude und der Alltagsmut jenes dort anzutreffenden prächtigen Menschenschlages – glücklicherweise entwickelt auch all dies eine robuste Beharrlichkeit. Und solange dieser Liebreiz nicht müde wird, den Widrigkeiten des Lebens zu trotzen, solange bleibt Hoffnung.

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