Reisen & Begegnungen

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Winfried Böttcher: Ein 360-Grad-Blick auf eine Welt in Turbulenzen

Winfried Böttcher
Winfried Böttcher: Zu Europa und zum Frieden in weltbürgerlicher Absicht, Oktober 2025.

Krieg und Frieden. Leo Tolstois Meisterwerk bringt die essentielle Frage der Menschheit prägnant auf den Punkt. Nun leben wir nicht mehr in Zeiten der napoleonischen Kriege des Zarenreiches, sondern 220 Jahre später. Die Brisanz ist geblieben. Unstreitig ist, dass kriegerische Auseinandersetzungen einen wesentlichen Teil der Kulturgeschichte in der Vergangenheit ausgemacht haben, die Gegenwart beherrschen und wohl auch in Zukunft die Menschheit plagen werden.

Winfried Böttcher – Professor emeritus an der RWTH Aachen – befasst sich seit Jahrzehnten mit der Fragestellung, wie Krieg und Frieden Länder und Gesellschaften prägen und verändern. Sein besonderer Blickwinkel gilt dabei der Rolle Europas. Gleich zu Beginn seines neuen Buches erinnert Professor Böttcher daran, dass spätestens nach Entstehung der Nationalstaaten, sich der Nationalismus epidemisch ausgebreitet hat. Der Nationen-Begriff ist historisch und kulturell allerdings komplex. Die Hingabe eines Individuums an die Gemeinschaft ist für die Funktionsfähigkeit eines Staates wichtig, kann aber auch ausgenutzt und missbraucht werden. 

Insofern ist es ein missbrauchter Nationalismus, der die eigentliche Ursache für die heutigen Krisenherde ist. Deshalb gilt: Wer den Krieg ausmerzen will, der muss den Nationalismus als Störenfried des Friedens ausschalten. Das Projekt Europa, nach den schrecklichen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs, ist in diesem Sinne angelegt worden. Die europäischen Integrationsversuche sieht Böttcher allerdings zwiespältig, mit Erfolgen und Defiziten.

Der Bedeutungsverlust Europas in der Welt ist in der Tat erschreckend. Wenn man als vielgereister Beobachter auf das heutige Europa schaut, wird es einem angst und bange. Strategie und Fokus fehlen völlig. In Peru baut Deutschland Radwege, die Chinesen See- und Flughäfen. Ob es in Gaza Frieden gibt, entscheidet nicht Europas Diplomatie, sondern amerikanische Immobilien-Milliardäre und Katar, Ägypten und die Türkei. Europa – in punkto Wettbewerbsfähigkeit, Ansehen und Erfolg – darf Platz nehmen am Katzentisch des Weltgeschehens.

Vielerorts – von Ungarn bis in die USA – finden sich heute Populisten an den Schalthebeln. Die Sehnsucht nach starker Führung wächst besonders in Krisenzeiten. Europa hingegen ist – bestenfalls – ein wirtschaftlich orientiertes Europa geblieben. Die Idee „Europa“ sei nicht zu Ende gedacht und gebracht, so der Aachener Wissenschaftler. Konkret bietet Winfried Böttcher die Vision eines „Europas der Regionen“ an, mit Bürgerentscheiden als höchster Instanz.

Trotz Krieg und Säbelrasseln ist die Sehnsucht nach Frieden groß. Wie ein besseres Europa aussehen könnte  beschreibt Böttcher in Kapitel vier. Er plädiert in Bezug auf die Integration für einen pragmatischen Möglichkeitssinn, um den erstarkenden Nationalismus zu überwinden. Europa kann in der Außen- und Sicherheitspolitik nur auf Geschlossenheit setzen, mit Frankreich und Deutschland als Treiber. „Kriegstüchtig“ zu werden sei ein Irrweg, schüre nur die Angst der Nachbarn und trage nicht zur Befriedung bei.

Ohne „Europafähigkeit“ sieht Böttcher – ein Schüler von Klaus Mehnert – für die Staaten keine Weltfähigkeit. Frieden sei nur dann möglich, wenn er sich weltweit durchsetze. Doch Frieden an sich ist noch kein absoluter Wert. Nur eine Einbettung in humanistische Ideale verleiht ihm Kraft und Beständigkeit.

Vom Verständnis für eine weltbürgerliche Koexistenz hängt der Frieden ab, so Böttcher in seiner anspruchsvollen und detailreichen Abhandlung. Zunächst müsse sich Europa ändern, denn nur die Europafähigkeit mündet in einer Weltfähigkeit. Insofern ist Böttchers Argumentationskette nachvollziehbar. Seine zentrale Botschaft:

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Winfried Böttcher: Europas Zukunft liegt in der Regionalisierung

Winfried Böttcher: Europas Zukunft – Eine europäische Republik der vereinten Regionen.

Das wunderbare Friedensprojekt Europa, hervorgebracht durch den Schmerz zweier schrecklicher Kriege, hat in unseren Tagen kräftig an Glanz verloren. Zum einen bedrohen Nationalismus, Rechtsextremismus und Populismus das europäische Demokratiemodell. Dazu kommen hausgemachte Irrwege wie zu viel Bürokratie und ein paternalistischer Zentralismus. Diese Entwicklung stimmt traurig. In der Diagnose der europäischen Misere wird man wohl schnell auf einen Nenner kommen, doch wie lautet die Therapie?

Winfried Böttcher zeigt in seinem neuen Buch auf, dass es keinen Sinn macht, das Machtgefüge des überlebten Nationalstaates auf ein übergeordnetes europäisches Konstrukt zu übertragen. Denn Zentralinstanzen engen ein, gewähren ihren Subsystemen zu spät und nur eingeschränkt selbstbestimmte Freiräume. Jedoch hat die Idee Europas immer die Anerkennung der ethnischen, historischen und kulturellen Eigenarten einbezogen.  

Um aus dem Notstand zwischen Anspruch und Wirklichkeit herauszufinden, schlägt der Aachener Wissenschaftler vor, ein oder zwei Schritte zurückgehen, um die Sicht auf die Utopie wieder freizulegen. Winfried Böttchers Grundannahme lautet, dass der Nationalstaat seine historische Funktion erfüllt hat und einem wirklichen europäischen Integrationsprozess im Wege steht. Als Gegenentwurf skizziert der Politikwissenschaftler die Idee eines Europa der Regionen, in der eine kraftvolle regionale Identität als Antrieb eines lebendigen Gemeinwesens dient.

Aus der kleinräumigen Unverwechselbarkeit, man darf sie populär ruhig Heimat nennen, sollte sich eine Dynamik entwickeln, die nach innen festigt und nach außen hin öffnet. Die Selbstorganisation der Regionen mit am Wohl des Gemeinwesens orientierter vielfältiger Mitwirkung der Bürgerschaft an allen sie direkt betreffenden Angelegenheiten entwickelt so auf Grundlage der Subsidiarität eine neue Vision: die Demokratie als Lebensform.

Subsidiarität bedeutet in diesem Zusammenhang allerdings auch, die regionalen Systeme im Sinne autonomer Partizipation zu pflegen, auch unter Hinnahme des eigenen Machtverlustes der Europäischen Union. Schwer genug. Doch es gibt keinen anderen Weg: In einem System der Regionen in Form eines europäischen Föderalismus kann der Schutz von Minderheiten, der Respekt ihrer kulturellen Identität und ihre politische Teilhabe am besten gewährleistet werden.

Die Zukunft Europas liegt insofern in einer Kombination aus Regionalisierung und Internationalisierung. Ein Europa der vereinten Regionen wirkt mit seinem lebendigen Regionalismus nahe am Alltag der Menschen. Demokratische Partizipation und Solidarität vermögen, die anfallenden Probleme zu lösen und die europäischen Werte zu leben. Das Europa der Zukunft – so der Professor emeritus der RWTH Aachen – wird regional, föderal und humanistisch sein, oder es wird gar nicht sein.

Der Gegenentwurf des Aachener Wissenschaftlers für ein anderes Europa möchte den Menschen und seine Identität ins Zentrum aller Politik rücken. Dazu allerdings muss das europäische Haus in seinen Grundfesten neu angelegt werden, hierbei kommen Deutschland und Frankreich aus historischer Verantwortung die Rolle des Vorreiters zu.

Beim Lesen des neuen Buches von Winfried Böttcher überfällt den Leser ein Hauch von Wehmut. Denn die pointiert geschriebenen Einsichten zeigen, wie

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Christo: The Wrapped Reichstag in Berlin

Das neue Deutschland erfreut sich an einem Sommermärchen: der verhüllte Reichstag.
Berlin, am 30. Juni 1995. Foto: Archiv W. Stock.

Die Aktion ist lange umstritten gewesen. Einwände kommen vor allem aus der konservativen Ecke. Die hehre deutsche Tradition als Happening? Um Gottes Willen! Der Bundeskanzler Kohl aus Oggersheim ist dagegen, die meisten Mitglieder seines Kabinetts, viele Abgeordnete. Später ergibt sich dann doch eine Mehrheit für das Projekt. Und als dann die Verhüllung des Reichstags erfolgt ist, zeigen sich selbst die Kleingeister und Nörgler auf einmal begeistert.

Jene Verhüllung des Reichstags, die weltweit als Wrapped Reichstag für Aufsehen sorgt, ist eine Erfindung des umtriebigen Künstlers Christo. Im Juni und Juli 1995 kann man in der deutschen Hauptstadt das temporäre Meisterwerk bestaunen. Kunst im öffentlichen Raum, frei zugänglich für alle, keine Eintrittsgebühr, ein Magnet für Touristen aus aller Welt, Berliner Familien mit Picknickdecke. Die Darbietung wird rundweg zu einem vollen Erfolg.

Schon von weitem sieht man die silbrig glitzernden Stoffbahnen. Besucher, die sich einen Fetzen dieses Stoffes sichern, werden den Schnipsel noch Jahrzehnte später als Erinnerung in ihren Schubladen halten. Besonders bei Sonne und klarem Himmel, in der Stunde der einfallenden Abendsonne, entfaltet die Verhüllung ihren optischen Reiz. Die Zuschauer kommen zu Tausenden, nach den zwei Wochen zählt man fünf Millionen Frauen, Männer und Kinder, die dieses einzigartige Kunstwerk besucht haben. Ein durchschlagender Triumph, ein deutsches Sommermärchen, vom 24. Juni bis zum 7. Juli 1995.

Der Reichstag hat in seiner langen Geschichte ab 1894 viel gesehen: Der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann, der von einem Balkon im Jahr 1918 die Republik ausruft, der Kaiser ist nach dem verlorenen Krieg vertrieben und hackt Holz in Holland. Dann die Nazis, die einen Brand im Reichstag nutzen, im Jahr 1933 ihre Herrschaft zu festigen, ein Jahr später durch Ermächtigung. Zum Kriegsende im Mai 1945 wehen rote Sowjetfahnen über einem fast völlig zerstörten Trümmerhaufen namens Berlin. 

Auch auf diese historische Last soll aufmerksam gemacht werden. Das Timing ist wunderbar. Christo kommt mit seinem Projekt hinein in eine historische Turbulenz deutscher Geschichte. Im Jahr 1989 fällt die Berliner Mauer, der deutsche Kommunismus und gleich der ganze Ostblock sind passé, ein Jahr später wird Deutschland mit dem Segen der vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs wiedervereint. Spannende Momente: Es tun sich für die Deutschen so viele offene Fragen auf, zugleich überkommt die Nation aber auch eine Art mentaler Aufbruch.

Das des Künstlers Christo kommt zu richtigen Zeit. Durch Verhüllen Verborgenes sichtbar machen. Verschleiern, um neugierig zu machen. Das ist die Idee hinter den Kunstprojekten, die das Ehepaar Christo und Jeanne Claude seit 1961 symbiotisch planen und ausführen. Er, der aus seiner Heimat Bulgarien vertriebene Konzeptkünstler. Sie, die resolute Französin mit dem feuerroten Haar und den klaren blauen Augen.

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Ein silbrig glitzernder Stoff, der das goldene Sonnenlicht reflektiert. Foto: W. Stock

Doch der Wrapped Reichstag ist mehr als ein Kunstwerk, er symbolisiert auch die gesellschaftliche Erneuerung Deutschlands.  Der Verhüllte Reichstag veranschaulicht nach der Wiedervereinigung die Erneuerung Deutschlands auf Grundlage seiner nicht immer einfachen Tradition und seiner historischen Werte. 

Und siehe da: Deutschland zeigt auf einmal ein sommerliches Gesicht: Die Erhabenheit kann für ein paar Tage unter strahlend blauem Himmel versteckt werden, an Stelle des sonst üblichen Bierernstes darf für einen Moment eine heitere Kunst treten. 

Mittels Abstimmung mit den Füssen erweist sich Christos Meisterwerk als Volkskunst par excellence. Der Wrapped Reichstag ist ein Werk, an dem sich Millionen erfreuen und diese Freude

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Der Ukraine-Krieg: Wege aus der Krise

Winfried Böttcher: Russland – Die Ukraine – Der
Westen, 184 Seiten, ISBN: 978-3-7562-5716-4; BoD-Verlag, 14.50 €.

Es herrscht Krieg in Europa. Zerstörung, Tote, unfassbares Leid. Eine solche Krise hat Europa nach dem Zweiten Weltkrieg nicht erlebt. Ein falscher Schritt, eine fehlgeleitete Rakete, ein dummer Befehl – und die größte Katastrophe könnte sich ihren Weg bahnen.

Bei einer solchen Zuspitzung ist kühler Kopf und professioneller Rat gefragt. Einer der besten Kenner des europäischen Einigungsprozesses und zugleich der russischen Welt ist der Aachener Politologe Winfried Böttcher. Der 85-jährige Wissenschaftler hat jahrzehntelang den Lehrstuhl für Politische Wissenschaft an der RWTH innegehabt, nach seiner Emeritierung gründete er das Europa-Institut Klaus Mehnert an der Staatlichen Technischen Universität Kaliningrad. Böttcher hielt zudem hinaus zahlreiche Gastprofessuren, so auch in Kiew und Moskau. Wer könnte die dramatischen Ereignisse der letzten Wochen besser einordnen als der Aachener Politikwissenschaftler?

Russland und der Westen heißt sein aktuelles Buch, in dem Winfried Böttcher für Respekt und gegenseitiges Verstehen wirbt. Die zu beobachtende ideologische und publizistische Aufrüstung verschlimmert den Konflikt nur. Schuldzuweisungen oder Verteufelungen mögen menschlich verständlich sein, tragen jedoch kein Jota zur Problemlösung bei. Das Schicksal Westeuropas bleibt eng mit dem Schicksal Russlands verbunden. Die Vorherrschaft des einen über den anderen ist nicht denkbar, nur gute Nachbarschaft und konstruktive Zusammenarbeit können die Grundlage für ein friedliches Miteinander sein.

Winfried Böttcher zieht in seiner Analyse den großen historischen und philosophischen Bogen. Vor diesem Hintergrund gelingt es ihm, auch Fehlentwicklungen anzusprechen. So hat das selbstverliebte Westeuropa die Neugier und die Auseinandersetzung mit anderen politischen und kulturellen Traditionen vernachlässigt und sich zu sehr in einem kulturellen Überlegenheitsanspruch gesonnt. In den schwachen Stunden ist dieser intellektuelle Dünkel in gebrochenen Zusagen, Herabwürdigungen und Hochmut gemündet.

Dabei ist vergessen worden, all die reichen Traditionen in eine gesamteuropäische Kultur einzubringen, die keinen abseits stehen lässt. Man kann diesen Ansatz auf die Politik umlegen: Weil immer noch die Interessen der Nationalstaaten im Vordergrund stehen, ist es nicht gelungen, eine gemeinsame europäische Sicherheitsarchitektur zu bauen. Doch wie kann der Krieg in der Ukraine nun beendet werden? Wie wird sichergestellt, dass es

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Mein Gott, welch eine großartige Zeit!

John Naisbitt und Wolfgang Stock, Velden am Wörthersee, im September 2016.

In memoriam: John Naisbitt (1929 – 2021)

Er war der Pionier aller modernen Trendforscher, er hat ein ganzes Genre begründet. John Naisbitts Bücher sind in 57 Sprachen übersetzt, allein sein Bestseller Megatrends aus dem Jahr 1982 hat sich weltweit über 14 Millionen Mal verkauft. Bei ECON hatte ich die Ehre, seine Bücher Megatrends 2000Megatrends for Women und Global Paradox zu verlegen. Seitdem sind wir gut befreundet.

Den Begriff Megatrend hat er erfunden, ebenso wie er im gleichnamigen Buch den Terminus Globalisierung populär gemacht hat. John Naisbitt gehörte keiner ideologischen Denkrichtung an, er sah die Welt undogmatisch mit gesundem Menschenverstand, radikal von der Mitte aus, wie der Amerikaner aus Utah stets betonte.

John war offen und neugierig. Er fragte, er ergründete. Wenn er eine Sache begreifen wollte, dann über

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Skizze eines anderen Europa

Dieses Bild hat ein leeres Alt-Attribut. Der Dateiname ist BöttcherCover-664x1024.jpg

Winfried Böttcher: Europa 2020 – Von der Krise zur Utopie. Tectum Verlag, 240 Seiten, 24 €, ISBN 978-3-8288-4462-9

Die alte Welt ist in den letzten Jahren von Krisen und Rückschlägen durchschüttelt.  Die Flüchtlingskrise, der Ukraine-Konflikt, Brexit, ein aufkommender Nationalismus, Umwelt- und Klimakrise, jetzt auch Corona. Europa und Brüssel als Lösungsmotor fallen in erschreckender Weise aus, es sind nach wie vor die Nationalstaaten, die sich um Schadensbegrenzung bemühen oder die Scherben aufsammeln. Der Aachener Politologe Winfried Böttcher sieht solche Krisen jedoch auch als Chance. Krisen seien mehrdimensionale historische Erschütterungen, die mit ihrem Veränderungsdruck für den gesellschaftlichen Wandels durchaus notwendig sind.

Der Krisendruck wird in den nächsten Jahren hoch bleiben oder noch steigen. Die Europäische Union bietet allerdings in ihrer derzeitigen Verfassung und Aufstellung keine echte Zukunftsperspektive. Ein Neustart sei das Gebot der Stunde. Der Gegner für eine solche Neuordnung bleibt der Nationalstaat, er ist die eigentliche Ursache für die Systemkrise, in der sich die EU befindet.

Den Herausforderungen der Digital-Epoche sind die Nationalstaaten nicht gewachsen. Die Märkte agieren global, sind schnell und wendig, optimieren ohne Rücksicht über alle Grenzen ihre Absatzchancen. Die Staaten hingegen sind nach wie vor schwerfällig und gelähmt, erweisen sich im Hase und Igel-Duell zu oft als Verlierer. In diesem ungleichen Wettbewerb steht Europa hilflos da, ohne Orientierung, ohne Perspektive und ohne Zuversicht.

Die Europäische Union mit ihren immer noch mächtigen Nationalstaaten befindet sich in einer systemischen Existenzkrise, sie droht institutionell, ökonomisch, sozial und wertorientiert zu scheitern. Die Defizite wurden, so lässt Winfried Böttcher anklingen, bereits bei der Gründung des europäischen Projekts gelegt. Vor allem bei der Fehlkonstruktion unzureichender Gewaltenteilung und der damit einhergehenden Dis-Balance und der ungenügenden Kontrolle.

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Warum ist die europäische Banane krumm?

Winfried Böttcher (Herausgeber)
Europas vergessene Visionäre
Rückbesinnung in Zeiten akuter Krisen
2019, 521 S., Gebunden; 58,- €

Ob mit Europas vergessenen Visionären nicht gleich auch deren Visionen perdu gegangen sind? Die Sorge scheint berechtigt im Jahr 2019. Hat Europa in der heutigen Verfassung überhaupt eine Zukunft? Der europäische Zusammenhalt ist brüchig wie nie: Absetzbewegungen wie der Brexit sind zu beklagen, durch Banken- und Etat-Krisen ist massiv Vertrauen verspielt worden, nationalistische Rollbacks sind allerorten zu beobachten. Ein Europa in Zeiten akuter Krisen braucht jedenfalls neue Schwungkraft, mindestens. 

In seinem aktuellen Werk Europas vergessene Visionäre erinnern Winfried Böttcher und seine Mitautoren aus welchen historischen und politischen Erwägungen einst die Vision Europa entstand. Wichtige, aber zu Unrecht in Vergessenheit geratene europäische Denker wie Ludwig Börne, Jean Jaurès oder Salvador de Madariaga zeigen, dass vor allem das Denken in fatalen Kategorien wie Freund/Feind überwunden werden sollte. Man liest in die zahlreichen Biografien dieses fein recherchierten Sammelbandes hinein, mit Neugier auf den Menschen, aber auch mit dem Blick auf jenes, was von der visionären Kraft als Vermächtnis im 21. Jahrhundert noch übrig geblieben ist.

Viel ist es nicht. Der Europa-Politik der letzten Jahre sind in meinen Augen vor allem zwei kapitale Fehler unterlaufen. Der erste: Statt die hehre Europa-Idee zum Leuchten zu bringen, hat man zu oft den EU-Amtsschimmel wiehern zu lassen. Für den schwerwiegenderen zweiten Fehler wird gerade von Italien über Ungarn bis Frankreich die Quittung erstellt: Politik und Medien haben die identitätsstiftende Kraft des Nationalstaates unterschätzt. Baustellen gibt es also zuhauf in Europa.

Fraglos vermag die Wissenschaft Lösungsoptionen bereithalten, wenn Politik und Öffentlichkeit bloß die Ohren spitzen würden. Mit seinen Veröffentlichungen und seiner über 50-jährigen Tätigkeit in Lehre und Forschung gehört Winfried Böttcher selbst zu den unermüdlichen Visionären Europas. Von den Anfängen an der London School of Economics bis hin zur RWTH Aachen, wo er den Lehrstuhl von Klaus Mehnert übernahm, hat Winfried Böttcher unentwegt als Impulsgeber für Europa gerackert. 

Es lohnt, sich mit Winfried Böttchers Ideen eines modernen Europas auseinander zu setzten. Böttcher sieht die Funktion des Nationalstaates als erfüllt an, er hat sich historisch überlebt. Der neue Organismus jedoch braucht ein neues Funktionsprinzip, Professor Böttcher bietet das ordnungspolitische Konzept der Subsidiarität an. Die Hoheit für staatliche Aufgaben und Verantwortlichkeit ist der jeweils untersten dafür geeigneten Ebene zu übertragen. Die übergeordnete Einheit kommt erst dann zum Zuge, wenn die untergeordnete ergebnismäßig überfordert ist.

In diesem Sinne plädiert Winfried Böttcher für ein vereintes Europa, das subsidiär aufgebaut ist, als eine politische Ordnung von unten mit einer weitgehenden Autonomie der Regionen. Diese Europa-Vision ist nicht nur erkenntnistheoretisch schlüssig, sondern zudem politisch und wirtschaftlich klug. Denn die Idee Europa kann funktionieren, wenn Subsidiarität als ein fester Rahmen dennoch die Entfaltung der individuellen Selbstbestimmung und Selbstverantwortung ermöglicht.

Den Krümmungswinkel einer Banane sollten deshalb nicht

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John Naisbitt: Hoffentlich nicht Donald Trump!

John und Doris Naisbitt in Velden am Wörthersee, September 2016

John und Doris Naisbitt in Velden am Wörthersee, September 2016; Photo by W. Stock

Als bekanntester Trendforscher weltweit, John Naisbitts Bücher sind in 57 Sprachen übersetzt, hat sich der Amerikaner einen frischen Blick auf die Welt bewahrt. In den späten 1980er Jahren bekam ich bei ECON die Ehre, Johns Bücher Megatrends 2000, Megatrends for Women und Global Paradox zu verlegen. Es war eine wunderbare Zeit und seitdem sind wir gut befreundet.

Ich besuche John und seine Ehefrau Doris in ihrer Sommerresidenz am Wörthersee. John is in good shape, wie die Amerikaner sagen, neugierig auf Neues und klar in der Analyse, das kann nicht jeder 87-Jährige von sich behaupten. Die Langzeit-Betrachtung der beiden Autoren fällt für hiesige Breiten eher düster aus: Mit Europa und den USA gehe es langsam aber stetig bergab. Der Westen besitze seit Jahren keine Kraft für wirkliche Reformen und einfach keine Strategie, seine neue Rolle in der Welt zu finden.

Wenn beispielsweise die europäische Entwicklungspolitik nach Afrika komme, dann meist mit erhobenem Zeigefinger. Man solle nur ja auf diese demokratische Gepflogenheit achten und gefälligst den westlichen Wertekanon übernehmen. Die Eliten nicken und stecken das Geld ein. China hingegen, das sich in Afrika und Südamerika sehr rührig zeigt, mache es schlauer. Das Land gehe zur dortigen Regierung und schlage konkrete Projekte vor: Wir bauen euch eine Eisenbahnlinie von der Hauptstadt zur Küste. Und so packen es die pragmatischen Chinesen dann auch an. Arbeitsplätze werden geschaffen, die Infrastruktur des Landes verbessert, das Geld versickert nicht in dunkle Kanäle. Alle sind zufrieden.

Der Westen besitze heute einen

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Klartext zu Europa

SOS Europa - Wege aus der Krise; Finanzbuchverlag, Juli 2016

SOS Europa – Wege aus der Krise; Finanzbuchverlag, Juli 2016

Es tut weh, dieses Buch „SOS Europa“ zu lesen. Nicht weil es schlecht geschrieben wäre, ganz im Gegenteil. Es ist das Thema, das so schmerzt: Die Vision eines friedfertigen und wohlstandsstarken Europa geht perdu. Denn die Umsetzung dieser Vision liegt in Trümmern. Gottfried Heller, Ulrich Horstmann und Stephan Werhahn legen in ihrem Sammelband alle Baustellen der EU offen und die bekannten Autoren benennen die Baustellen Europas in solch klarem Hochdeutsch, dass einem um die Zukunft des alten Kontinents angst und bange wird.

In der Agenda von Lissabon hat die EU sich im Jahr 2000 in die Hand versprochen, zur „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Region“ der Welt aufzusteigen. Was muss man 15 Jahre später feststellen? Das genaue Gegenteil ist passiert, Europa wurde wirtschaftlich abgehängt. Während die Wirtschaftskraft Chinas von 2000 bis 2010 um 171 Prozent wuchs, die Weltwirtschaft um 47 Prozent, so vermochte die EU in dieser Dekade lediglich um 17 Prozent und die Eurozone gar nur um mickrige 12 Prozent zu wachsen. Europa ist kraftlos, uneins und ohne Reformeifer.

Das macht besonders deutlich der Aufsatz von Gottfried Heller, das Highlight dieses Buches. Die fehlende Wirtschaftsdynamik ist nicht die einzige Sackgasse, in die sich Europa verfahren hat. Die zentralistische

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Machtwende – der Süden holt auf

John & Doris Naisbitt: Machtwende - Wie die Länder des Globalen Südgürtels unsere Welt verändern werden; Goldegg Verlag, Juni 2016

John & Doris Naisbitt: Machtwende – Wie die Länder des Globalen Südgürtels unsere Welt verändern werden; Goldegg Verlag, Juni 2016

Es ist immer ein Gewinn, wenn man Bücher liest, die aus einer Adlerperspektive geschrieben werden. Denn unsere Welt verändert sich so rasant, dass man manchmal mit dem Einordnen nicht mehr nachkommt.

Das Autorenpaar John und Doris Naisbitt werfen in ihrem neuen Buch einen erhellenden Blick auf den Zustand der Welt von heute und versuchen die Trendlinie in die Zukunft zu ziehen. Die USA verlieren an Einfluss, Europa schwächelt bedenklich und die Gewinner im globalen Wettbewerb sind die Staaten des Südgürtels, jene sich entwickelnde Nationen, die man unter dem Begriff Schwellenländer zusammenfasst.

Die Stärke des Buches liegt in einem sympathischen Un-Dogma. Die Naisbitts berichten von ihren Gesprächen, sie analysieren Bücher und Artikel und lassen uns an ihren Beobachtungen teilhaben. Gerade in diese persönliche Beobachtungen erzeugen jene Aha-Effekte, von denen es in dem Buch einige gibt. So berichtet das in Wien wohnende Ehepaar, dass sie zu ihren Flügen in die weite Welt immer seltener die traditionellen Drehkreuze London, Paris oder Frankfurt nutzen, sondern vielmehr nun über Dubai oder Istanbul fliegen. Ein kleines, aber feines Indiz, wie sich die Entwicklung von der westlich zentrierten Welt hin zu einer multi-zentristischen Welt vollzogen hat.

Mit Europa und den USA gehen der Amerikaner John Naisbitt und die Österreicherin Doris Naisbitt hart

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