Mario Vargas Llosa in Lima/Peru, im Januar 1986. Foto: Norbert Böer.

In memoriam: Mario Vargas Llosa (1936 – 2025)

Mit Mario Vargas Llosa tritt der letzte Autor der lateinamerikanischen Boom-Generation ab. Vom politischen Gewicht war der Peruaner der mächtigste.

Von Wolfgang Stock

Anfang der 1970er Jahre, als der Boom der lateinamerikanischen Literatur einem ersten Höhepunkt zusteuerte, hatten wir auf unseren Leselisten vier Namen dick unterstrichen: den des Kolumbianers Gabriel García Márquez, den Mexikaner Carlos Fuentes, den Argentinier Julio Cortázar und den Peruaner Mario Vargas Llosa. Glücklicherweise waren die Talente gleichmäßig verteilt, Schreiben wie die Götter konnten alle. Jeder jedoch marschierte in eine unterschiedliche Richtung. Gabo war der große Phantast, Carlos Fuentes machte Schlagzeilen durch seine Liebschaft mit der engelsgleichen Jean Seberg und Julio Cortázar beeindruckte als ideenreicher Kopf. Doch Mario Vargas Llosa blieb jener, der mit allen Sinnen in der Wirklichkeit stand.

Am Malecón Paul Harris wohnte Vargas Llosa in einer gigantischen weißen Villa mit Blick auf den Pazifik. Dort auf der Anhöhe über der Brandung des Meeres in Limas Stadtteil Barranco waren Don Mario und seine Ehefrau Patricia allerdings nur selten anzutreffen. Eher konnte man ihnen in London, Barcelona oder Madrid über den Weg laufen. Die spanische Hauptstadt wurde in den letzten Jahrzehnten das neue Zuhause, 1993 nahm der Schriftsteller zusätzlich die spanische Staatsbürgerschaft an.

Das erste Mal traf ich Mario Vargas Llosa Anfang der 1980er Jahre in Lima. In den Reichenviertel von Perus Hauptstadt, in Miraflores und San Isidro, hingen über Nacht in jenen Tagen Hunde mit den Hinterpfoten an Laternenpfähle und im Maul der toten Viecher steckte eine Stange Dynamit. Dazu erblickten um Mitternacht die Limeños auf den fernen Hügeln im Osten Feuerkränze aus glühenden Ölfässern, die Hammer und Sichel formten. Den Gruß schickte eine maoistische Terrorgruppe, die sich die Bezeichnung Sendero Luminoso zugelegt hatte. Poetisch war beim Leuchtenden Pfad nur der Name. Am Ende von 10 Jahren Terrorschrecken standen 70.000 Tote.

Im Januar 1983 waren acht Journalisten aus Lima in dem Andennest Uchuraccay von Indios brutal zu Tode gesteinigt worden. Der integre, aber schon etwas senile Präsident Fernando Belaúnde Terry musste eine aufgewühlte Öffentlichkeit beruhigen und berief eine Kommission, um den Schrecken zu verarbeiten. Als Vorsitzenden dieser Kommission berief Belaúnde einen Schriftsteller, der sich schon damals weit über die Grenzen seiner Heimat Respekt erworben hatte. Und so wurde der damals Mittvierziger Mario Vargas Llosa Vorsitzender der dreiköpfigen Untersuchungskommission, die den düsteren Fall aufhellen sollte.

Geboren wurde Jorge Mario Pedro Vargas Llosa im März 1936 in Arequipa, dem Zentrum im Süden Perus. Der Vater Ernest arbeitete als Telegraphist und Flugplatzfunker in Tacna, die Mutter Dora entstammte dem angesehenen Bildungsbürgertum, ihr Vater war Präfekt in Piura. Die weiße Stadt wird Arequipa genannt, weil viele ihrer Straßen und Wege mit dem hellen Stein des Vulkans El Misti gepflastert sind. Das koloniale Arequipa ist ein großes Dorf, in dem die Uhren gemächlich gehen. Mit Lima, dem hektischen Gedröhne und seinem flatterhaften Bürgertum, ist Vargas Llosa eigentlich nie so richtig warm geworden. Schon früh zog es ihn nach Europa, nach Paris und Barcelona.

Mario Vargas Llosa hat über zwei Dutzend Romane veröffentlicht. Kritiker und Leser loben vor allem sein Frühwerk. Die Stadt und die Hunde (La ciudad y los perros), Gespräch in der Kathedrale (Conversación en La Catedral) und Das grüne Haus führten weltweit zu seinem Durchbruch als Autor. Der Peruaner überzeugte als ein opulenter Geschichtenerzähler und als ein vollendeter Handwerker der Sprache. Dabei orientierte er sich am Konzept des totalen Romans und des komplexen Erzählens, deren Aufgabe darin liegt, ein umfassendes Abbild der Wirklichkeit in all seinen Facetten zu schaffen.

Besonders La casa verde ist ein Werk sprachlicher Genialität. Dieser virtuos verschachtelte Roman aus dem Jahr 1966 gehört zu den sprachstärksten hispanischen Werken überhaupt. Das grüne Haus versteht sich mit all seinen Handlungssträngen und zahlreichen Protagonisten als metaphorische Annäherung an das ganze Land. Es schildert die laszive Lebensfreude seiner Bewohner, aber auch die alltägliche Gewalt und beschreibt so als Mikrokosmos die explosive Vielfalt der peruanischen Völkergemeinschaft. Es gibt in Peru eine Vielzahl von Kulturen in einer Gesellschaft, die leider keinen Zusammenhalt besitzen. Wenn man von der Küste in die Hochebene reist, so wechselt man nicht nur die Klimazone, sondern auch die Sprache und, so will es scheinen, gar das Jahrhundert. Diese Mannigfaltigkeit stellt Perus großes Problem dar, aber andererseits glaube ich auch, dass es der große Reichtum unseres Landes ist.

Dem Land ist es nie gelungen – mit Ausnahme von Gastronomie und Musik vielleicht – die unterschiedlichen Traditionen harmonisch zusammenzufügen. Sein ganzes Leben hatte Vargas Llosa gelitten am Schicksal Perus. Wie sehr hatte er sich Fortschritt und ein wenig Wohlstand für sein Volk gewünscht! Schon bei der Schaffung der Welt, so der Autor, habe sich der liebe Gott einen üblen Scherz erlaubt: Auf wenig mehr als eine Million Quadratkilometer habe er drei völlig verschiedene Erdzonen – die Sahara, Tibet und den Kongo – gepresst. Die Peruaner, verstreut auf drei Landschaftszonen, getrennt durch drei Sprachen und erschüttert durch Terror, Putsche und rassische Konflikte, durchlebten exemplarisch alle Übel eines unterentwickelten Landes.

Tollkühn hat sich Mario Vargas Llosa im Jahre 1990 in ein Abenteuer gestürzt, so bunt und wild wie aus dem Roman. Als haushoher Favorit gestartet, bewarb er sich um das Präsidentenamt seines vom sozialistischen Populisten Alan García gründlich ins Elend herunter gewirtschafteten Landes. Doch Vargas Llosa verlor deutlich gegen einen unbekannten Agraringenieur japanischer Abstammung mit Namen Alberto Fujimori. Es hatte Vargas Llosa damals hart getroffen, dass nicht er, der brillanteste Sohn der Nation, diese Wahl gewonnen hatte. Doch die Indios und Tagelöhner, die Mehrheit der Wähler, hatten ihn einer knappen und harschen Beurteilung unterzogen: zu weiß, zu reich, zu europäisch. Für die Welt der Kultur freilich blieb es ein Segen, dass Vargas Llosa die Präsidentenwahl 1990 mit Pauken und Trompeten verloren hatte. Sonst hätten die Peruaner einen vorzüglichen Schriftsteller weniger und einen lausigen Präsidenten mehr gehabt.

MVLL, wie Vargas Llosa in seiner Heimat abgekürzt betitelt wird, galt als literarischer Tausendsassa. Er schrieb zwei Jahrzehnte eine Kolumne für die spanische Zeitung El País, die weltweit syndiziert wurde. Er verfasste Romane, veröffentlichte Essays, widmete sich dem Theater, drehte Kinofilme. Er konnte aus dem Stehgreif druckreife Reden halten wie kein zweiter. Sein Fleiß und seine Kreativität waren beeindruckend. Beides verdankt er im Alltag nicht zuletzt einer strikten preußischen Disziplin.

Mitte 2015 drehte Vargas Llosa dann voll durch: Knall auf Fall verließ er seine liebenswerte Frau Patricia und zieht in das Anwesen der 15 Jahre jüngeren Madrider Society-Lady Isabel Preysler. Das glamouröse Liebespaar füllte fortan die Klatschspalten der bunten Blätter. Sieben Jahre später kam Vargas Llosa zu Sinnen und kehrte zur Familie zurück. Anderes hätte auch gewundert, denn Don Mario war mit Herz und Habitus ein durch und durch bürgerlicher Mensch. Familie und eine intakte Umgebung waren ihm wichtig. Seine Kinder – der Autor Álvaro, der UNHCR-Funktionär Gonzalo und die Fotografin Morgana – waren sein Stolz, ebenso wie die Enkel.

Pudelwohl fühlte er sich in der frankophonen Welt. Im Februar 2023 wird er – als erster nicht französisch schreibender Autor – in die ehrwürdige Académie française aufgenommen. Diese Ehre bedeutete ihm viel, den die schwierigen Anfangsjahre hatte er in Paris verbracht. Wie seine Vorbilder Jorge Luis Borges und Ernest Hemingway. Die Parallelen zwischen Hemingway und Vargas Llosa fallen ins Auge. Beide haben blutjung als Journalist angefangen. Ernest Hemingway mit 18 Jahren im Oktober 1917 beim Kansas City Star, Mario Vargas Llosa – noch im Schulalter – in den Sommerferien 1952 bei La Crónica in Lima.

Bei dem bärtigen Kollegen aus Oak Park hat sich Vargas Llosa den Aufbau eines Spannungsbogens abgeschaut, ebenso wie das Anlegen einer Dialogführung. Alles nicht eins zu eins, vielmehr gelingt es dem Peruaner, die Techniken kreativ auf den magischen Realismus Lateinamerikas umzulegen. Mario Saavedra-Pinón, einer der großen Publizisten Perus, meint, Vargas Llosa schreibe als Journalist mindestens ebenso gut wie als Romancier. Gleiches darf auch für Ernest Hemingway gelten. Guter Journalismus als Lehrklasse für gute Romane. So funktioniert es bei vielen.

In jungen Jahren hing Mario Vargas Llosa, wie so viele Intellektuelle Südamerikas, kommunistischen Ideen an. Politisch gab es eine Zeit, wo ich der marxistischen Analyse sehr nahestand. Ich glaubte damals an eine Revolution, an eine gewaltsame Änderung der Strukturen in den unterentwickelten Ländern, um unsere Probleme zu lösen. Nach und nach reifte jedoch die Einsicht von der Ungerechtigkeit des Marxismus. Der Peruaner näherte sich der liberalen Ideenwelt eines Karl Popper, den er sehr verehrte. Wie der Wiener Denker sah er die Freiheit des Einzelnen als heiliges Gut und warnte vor absoluten Wahrheiten. Durch die Einschränkung der politischen, persönlichen und auch künstlerischen Freiheiten schafft man Gesellschaften, die dem Individuum keine Luft mehr zum Atmen lassen. Ich bin gegen Heilslehren von links wie rechts. Ich glaube nicht an die absolute Lösung, sondern nur an relative.

Gegen alle kollektivistischen Verführungen, die auf seinem Heimatkontinent an jeder Ecke zu finden sind, setzte er die Kraft und Kreativität des Individuums. MVLL erhob seine Stimme, sobald in Venezuela, Kuba oder Mexiko der Sündenfall geprobt wurde. Mit rhetorischer Verve widersprach Mario Vargas Llosa dem Mainstream lateinamerikanischer Kulturkreise, die meist linken Idealen nachhingen. Viele Freunde hatte er sich dadurch nicht gemacht. Doch Vargas Llosa wurde nicht müde, vor den Irrwegen der Revolution zu warnen. Die Welt sollte sich vor falschem Romantizismus hüten, Fidel Castro sei kein Robin Hood.

Einer seiner besten Tage war der 10. Dezember 2010: Mario Vargas Llosa erhielt in Stockholm aus der Hand des schwedischen Königs Carl XVI. Gustaf den Nobelpreis für Literatur. Der Peruaner wird vom Nobelkomitee gerühmt, weil er in seinem Werk die Strukturen der Macht kartografiert und messerscharfe Bilder von Widerstand, Auflehnung und Scheitern des Individuums gezeichnet habe. Der Gelobte, in New York überrascht, zeigte sich gerührt und begeistert. Auch das Publikum war verzückt, voll verdient riefen Leserschaft, Verleger und Literaturkritik unisono. Und dennoch fiel ein Schatten auf die renommierte Auszeichnung. Wie so oft: Der Nobelpreis kam zu spät, viel zu spät.

Nach seiner Blütephase in den 1980er Jahren verblasste der Glanz des magischen Realismus zusehends. Der konstruierte Stil eines Vargas Llosa summte bei seinen letzten Erzählungen wie aus einer alten Nähmaschine brav vor sich hin. Der Wechsel der verschiedenen Erzählebenen, die Technik der inneren Monologe, das Verschachteln von Handlungssträngen – das waren Erzähltechniken, die anno 1975 elektrisierten. Innovativ und richtungsweisend war der lateinamerikanische Roman 35 Jahre später schon lange nicht mehr.

Nun ist die Stimme von Mario Vargas Llosa am 13. April 2025 verstummt. Die Welt verliert einen fabelhaften Erzähler, einen meinungsstarken Mann der Mitte und einen sympathischen Burschen obendrein. Das Ableben des 89-Jährigen in Lima macht schmerzhaft bewusst, dass eine ganze Literatur-Epoche nun endgültig an ihr Ende gelangt ist. Der Tod von MVLL wird zu einem último adiós an eine Autorengeneration mit so üppiger und reicher Begabung, dass niemand vermochte, in ihre Fußstapfen zu treten.

Dr. Wolfgang Stock lebt als Journalist und Buchautor in Herrsching am Ammersee. Er kennt Mario Vargas Llosa aus mehreren Begegnungen.

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