Reisen & Begegnungen

Autor: Wolfgang Stock Seite 16 von 22

Carlos Gardel singt jeden Tag besser

Photo by W. Stock

Buenos Aires, im Januar 1988

Der Gott der Porteños ist schon lange tot. Genauer gesagt, seit 1935, als er bei einem Flugzeugabsturz in Medellín ums Leben kam. Und doch scheint dieser Tote lebendiger zu sein als so mancher in dieser Stadt.

Man kann ihn nicht übersehen in Buenos Aires. Sein Foto baumelt wie eine Duftkerze in den Taxis, er klebt als Postkarte in der Kante des Friseurspiegels oder man betritt eine U-Bahn-Station, die seinen Namen trägt.

Und das riesige weiße Mausoleum des Tangosängers auf dem Chacarita-Friedhof ist eine Pilgerstätte, die mit allerlei Devotionalien der Ehrerbietung bestückt ist und stets von Bewunderern umlagert wird. Cada dia canta mejor, wohl wahr, mit jedem Tag singt er besser, steht als Losung auf einem goldenen Schild.

Carlos Gardel gilt in Buenos Aires als Gott des Tangos, was wahrscheinlich aber untertrieben ist. Denn eher ist er Gott, Jesus und Moses in einer Person. Wen sollte man hier sonst verehren? Die Politiker? Korrupt bis auf die Knochen. Manager? Schmierig und gierig. Schauspieler? Ziemlich bedeutungslos. Nein, nein, der Tango, diese traurige und doch irgendwie trotzige Musik eignet sich wunderbar, die unaufhörlich platzenden Träume des argentinischen Bürgers zu beklagen.

Der Tango, der um die Wende zum 20. Jahrhundert in den Matrosenkaschemmen des La Boca-Hafenviertels entstanden ist, beschreibt die melancholische, teils resignative, aber auch stolze Haltung der sozial Benachteiligten. Im Tango klagt der kleine Mann über seine Not und das Schicksal, das es nicht gerade gut mit ihm gemeint hat. Der Tango jammert über das fehlende Geld und den verbleichenden Glanz der Schönheit, über den Krach mit einer Frau, die Bitternis einer nicht erhörten Liebe.

Auf die Kernbotschaft verdichtet, beschreibt der Tango das erschreckte Aufwachen aus einem schönen Traum. Wie das Erwachen aus dem Traum vom Reichtum, der Illusion von Liebe und dem Traum, der zwischen Geburt und Tod liegt. Der bekannte Gardel-Tango Adios Muchachos ist so eine typische wehmütige und bockige Abrechnung mit dem hiesigen Leben, in der Botschaft ähnlich wie Frank Sinatra My Way singt. Und bei beiden könnte es auch heißen: Lebt wohl, Ihr Scheißkerle, ich mach mich davon, und Ihr dürft mich mal alle mal kräftig!

Sicherlich ist der Tango ein trauriger Gedanke, den man tanzen kann. Noch mehr ist er aber ein stummer Dialog zwischen Wunsch und Wirklichkeit, zwischen Mann und Frau, zwischen Nähe und Fremdheit. Für die Argentinier als Nation drückt der Tango den kollektiven Wunsch nach Geborgenheit und Heimat aus, eine Träumerei, die von der Wirklichkeit so schändlich hintertrieben wird. Und es ist der tote Carlitos, der von dieser Utopie singt. Mit jedem Tag besser.

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Il Sole di Acapulco

Das Restaurant Acapulco, gefunden im April 2008 in Frankfurt am Main; Photo by W. Stock

Um diese Tatsache wird auf stockpress.de kein großes Geheimnis gemacht. Der geneigte Leser dieses Blogs wird rasch merken, der Autor mag Acapulco. Sunny Acapulco. You can’t get that out of the boy! Acapulco de Juárez, die launige Perle am stillen Ozean, ewiger Hochsommer, blauer Himmel, schrille Parties, ein lässiger Lebensstil.

Lesen Sie doch einfach einmal alle Artikel zur Kategorie Acapulco auf stockpress.de. Da reiht sich eine Liebeserklärung an die nächste.

In jungen Jahren hat der Verfasser viele schöne Monate dort gelebt. Aber lang ist es her, und nun versucht er sich daran zu erinnern, wo zum Teufel sich die Stadt Acapulco denn nun befindet. Wo auf diesem runden Globus liegt nun dieses Acapulco?

Dreißig Jahre ist es mittlerweile her, doch so langsam kommt die Erinnerung. Ja, Acapulco liegt 400 Kilometer westlich der Hauptstadt, direkt am Pazifik, und das Land heißt, ja, wie heißt das Land denn gleich?

Richtig, das wunderschöne Land trägt den Namen Mexiko. Aber vielleicht ist der Verfasser schon leicht im Geiste angekalkt und Acapulco liegt möglicherweise nicht an der mexikanischen Küste, sondern in Wirklichkeit befindet sich Acapulco in Europa, in Italien, sagen wir an der sonnigen Adria. Ja, Acapulco findet sich unter Italiens Sonne. Und Palermo liegt am Panama-Kanal, Rom in der Wüste Atacama und Triest in der Steppe Feuerlands. Und ein gewisser Silvio regiert in Argentinien.

Jetzt bin ich bald wirklich ganz balla-balla. Nur weil Acapulco in Italien liegt – jedenfalls in Frankfurt.

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Mario Vargas Llosa: Ein ziemlich verspäteter Nobelpreis

Mario Vargas Llosa

Im Hause von Mario Vargas Llosa in Lima/Peru. Im Januar 1986. Photo by Norbert Böer.

Eine großartige Nachricht kam da heute Mittag aus Stockholm. Den diesjährigen Nobelpreis für Literatur erhält der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa. Er musste lange genug warten.

Mario Vargas Llosa traf ich das erste Mal Anfang der 1980er Jahre in Lima. Kurz zuvor waren acht Journalisten in dem Andennest Uchuraccay von Indios zu Tode gesteinigt worden. Es waren jene Tage, in denen man sich auf der Strasse zum ersten Mal den Namen Sendero Luminoso zuraunte, und der blutige Terror dieser maoistischen Guerrilla sollte in den nächsten zehn Jahren den Alltag der Peruaner aus den Fugen bringen.

Der integre, aber schon etwas senile Präsident Fernando Belaúnde Terry muss eine aufgewühlte Öffentlichkeit beruhigen und beruft eine Kommission, die den Unmut im Ausland und in einheimischen Intellektuellenkreisen dämpfen soll. Wer nun könnte als Vorsitzenden dieser Kommission glaubhaft sein? Belaúndes Wahl fällt auf einen Schriftsteller, der sich schon damals weit über die Grenzen seiner Heimat Respekt und Renommee erworben hat. Und so wird der damals Mittvierziger Mario Vargas Llosa Vorsitzender der dreiköpfigen Untersuchungskommission, die den düsteren Fall aufhellen soll.

Bei der Schaffung der Welt, so erklärt Mario Vargas Llosa später im Gespräch, habe sich Gott einen üblen Scherz erlaubt: Auf wenig mehr als eine Million Quadratkilometer habe er drei völlig verschiedene Erdzonen – die Sahara, Tibet und den Kongo – gepresst. Die 24 Millionen Peruaner, verstreut auf drei Landschaftszonen, getrennt durch drei Sprachen und erschüttert durch tiefgehende rassische und soziale Konflikte, durchlebten exemplarisch alle Übel eines unterentwickelten Landes.

Ob man da von einer ‚Peruanität‘, von einer nationalen Identität aller Peruaner, reden könne, bei einer verschiedenartigen Völkergemeinschaft aus Indios, Chinesen, Schwarzen und Weißen? Peru ist in Wirklichkeit ein Konglomerat von Ländern. Es gibt eine Vielzahl von Kulturen in einer Gesellschaft, die leider keinen Zusammenhalt besitzt. Wenn man von der Küste in die Hochebene reist, so wechselt man nicht nur die Klimazone, sondern auch die Sprache und, so will es scheinen, gar das Jahrhundert. Diese Mannigfaltigkeit stellt Perus großes Problem dar, aber andererseits glaube ich auch, dass es der große Reichtum unseres Landes ist. Wir sind Erben verschiedener reicher Kulturen.

Aber wie sollen diese doch so unterschiedlichen Kulturen in Harmonie mit einander leben? Wo doch alleine drei Sprachen, die Indiosprachen Ketchua und Aymará sowie das Spanische, die Menschen trennen. Von der sozialen Benachteiligung gar nicht zu reden. Eine Harmonie erscheint mir im Augenblick schwer möglich, weil hinter den kulturellen Unterschieden teilweise tiefe wirtschaftliche Disparitäten stehen. Die Welt der Bauern, der Ketchua und Aymará ist eine durch das hispanisierte Peru ausgebeutete Welt. Auf der anderen Seite existieren Kulturen, wie die der Chinesen und der Schwarzen, die stärker in das peruanische Gemeinwesen integriert sind. Der afrikanische Einfluss auf unsere Musik der Küstenregion etwa, aber auch auf die Literatur ist sichtlich ausgeprägt.

Eine Person wie Mario Vargas Llosa würden die Franzosen als einen homme d’esprit bezeichnen. Dieser Mann von Geist hat zwei, drei außergewöhnliche Romane veröffentlicht, dieser Mensch kann jede Woche einen meist fabelhaften Essay zu Papier bringen und sprachlich brillant und druckreif aus dem Stehgreif eine Rede halten. Vargas Llosa ist ein virtuoser Sprachtechniker, wie sich nur wenige in der modernen Weltliteratur finden lassen, er ist ein opulenter Imaginist – und ein sympathischer Bursche obendrein. Er gilt als scharfsinniger und wortgewaltiger Beobachter seiner Heimat und des Kontinents, als jemand, dessen Rat man sucht und auf dessen Rat man hört.

Geboren wird Vargas Llosa 1936 in Arequipa, dem bedeutenden Zentrum im Süden Perus. Arequipa hinterlässt beim Besucher den Eindruck einer hübschen Stadt, deren 800.000 Einwohner von einer phantastischen Berglandschaft umgeben sind. Perus weiße Stadt wird Arequipa genannt, weil viele ihrer Strassen und Wege mit weißem Vulkanstein gepflastert sind. Der schneebedeckte Gipfel des Vulkans El Misti überstrahlt die Stadt, die weitgehend ihre pittoreske koloniale Architektur erhalten konnte. Dennoch waltet über diesem Idyll die Allmacht der Natur in ihrer heimtückischen Gefährdung durch Vulkanausbruch oder Erdbeben. Von Lava verbrannt oder von einem Erdbeben verschluckt zu werden, als sei dies die dunkle Heimsuchung, die über dieser faszinierenden Stadt und möglicherweise gleich über dem ganzen Land liegt.

Kann ein guter Schriftsteller da ob der grausamen Wirklichkeit seines Landes neutral bleiben, darf er lediglich beschreiben oder muss er vielmehr nicht all diese Zerrissenheit auch einem Werturteil unterziehen? Natürlich legt eine aufrichtige und authentische Literatur nicht nur Zeugnis ab, sondern bezieht zugleich auch Standpunkt. Sie zeigt eine wie auch immer geartete Perspektive auf, und dies schließt schon eine Art Werturteil ein. Jede wahrhafte Literatur besitzt letztlich – so glaube ich – eine kritische Funktion. Sie legt ein Problem offen, beschreibt eine Unzufriedenheit, eine Leere oder eine Unzulänglichkeit der Wirklichkeit.

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Ein kluger Denker, ein großer Autor. Mario Vargas Llosa in Lima. Photo by Norbert Böer.

Anfang der 1970er Jahre, als der Boom der lateinamerikanischen Literatur einem ersten Höhepunkt zusteuerte, hatten wir junge Lateinamerika-Verrückte sechs Namen auf unseren Hitlisten ganz oben stehen: den Kolumbianer Gabriel García Márquez, die Mexikaner Juan Rulfo und Carlos Fuentes, den Kubaner José Lezama Lima, den Argentinier Julio Cortázar und den Peruaner Mario Vargas Llosa. Von diesen großen Sechs blieben heute, würde man die Liste erneut aufstellen, wohl nur noch zwei Namen übrig. Drei trinken ihre Daiquirís beim großen Autoren-Manitu über den Wolken, ein anderer charmiert ziellos als Plauderfritze durch die Feuilletons dieser Welt. Nur noch Gabo García Márquez und Mario Vargas Llosa dribbeln in jener Champions League der Literatur, in der einst auch Gustave Flaubert oder Franz Kafka spielten.

Am Malecón Paul Harris wohnt Vargas Llosa in einer gigantischen weißen Villa mit Blick auf den Pazifik. Dort auf der Anhöhe über der Brandung des Meeres in Limas Stadtteil Barranco sind Mario Vargas Llosa und seine liebenswürdige Frau Patricia allerdings nur noch selten anzutreffen. Er, der treffsichere Chronist Perus, pendelt heute zwischen London und Madrid hin und her, anstatt in den Cafés von Miraflores oder an den brütenden Gestaden des Amazonas der Geschichte seiner Heimat nachzujagen. Die Opposition zu dem Regime des autokratischen Präsidenten Alberto Fujimori und Todesdrohungen der Terroristen des Sendero Luminoso haben ihn und seine Familie Anfang der 1990er Jahre nach Europa getrieben. 1993 hat der Schriftsteller zusätzlich die spanische Staatsbürgerschaft angenommen.

Wie viele Autoren denn in einem Land wie Peru vom Schreiben leben könnten, will ich wissen. Nun, kaum einer, antwortet Mario Vargas Llosa. Die meisten, wie Julio Ramón Ribeyro, der im diplomatischen Dienst tätig war, üben andere Berufe aus, sind Journalisten oder Lehrer. Doch selbst ein Lehrer oder Arzt fristet mit einem Monatslohn von gerade einmal zwei- oder dreihundert Dollar ein kümmerliches Dasein. Das Land hat nie großen Wert auf eine vernünftige Ausbildung seiner Bürger gelegt, Perus Schulen und Universitäten leiden an schlechter Ausstattung und besitzen einen schlechten Ruf. Wer die Mittel besitzt, schickt seine Kinder auf Privatschulen oder zum Studium nach Stanford oder an die Sorbonne.

Trotz aller Preise und Auszeichnungen liegt auf dem schriftstellerischen Glanz von MVLL, wie er in Peru abgekürzt genannt wird, ein zarter Schatten. Denn bereits mit 30 Lenzen – der Kalender zeigt das Jahr 1966 – hat der Peruaner sein Opus magnum veröffentlicht. Das grüne Haus ist ein virtuos verschachtelter Roman in Zeit und Raum und gehört wohl zu den 20 sprachstärksten Werken des 20. Jahrhunderts. Das grüne Haus – allerlei Geschichten um ein Bordell in der Wüstenstadt Piura im Norden Perus – versteht sich als metaphorische Annäherung an das ganze Land. Es stellt die laszive Lebensfreude seiner Bewohner dar, aber auch die urwüchsige Gewalt des Alltags und beschreibt so als Mikrokosmos die explosiven Vielfalt der peruanischen Völkergemeinschaft.

Alles was nach dem grünen Haus kam, war – kein Zweifel – nett bis obernett. Aber weder die Tante Julia noch Lob der Stiefmutter oder sein letztes Werk Das böse Mädchen aus dem Jahr 2006 konnten sich der sprachliche Genialität des grünen Hauses nähern. Einzig Gespräch in der Kathedrale und sein spätes Kunstwerk Das Fest des Ziegenbocks vermögen dem Meisterstück La casa verde in Ansätzen das Wasser reichen. Womöglich mag sich Mario Vargas Llosa wie ein unermüdlicher 100-Meter-Läufer fühlen, der am blühenden Anfang seiner Karriere die 9,7 Sekunden lief, während der Zeitmesser später nur mehr bei 10,4 oder 10,6 Sekunden stehen blieb. Was ja auch noch beachtlich scheint, zumal dieses Schicksal der Jugendkreativität nicht nur bei Don Mario, sondern des öfteren in den bildenden Künsten zu beobachten ist. Hat nicht auch der Beatle Paul McCartney bereits mit 21 Jahren seinen Jahrhundertsong Yesterday komponiert und war er nicht noch deutlich unter 30 als er sein letztes Meisterwerk Let it be herausbrachte?

Tollkühn hat sich Mario Vargas Llosa im Jahre 1990 in ein Abenteuer gestürzt, das so bunt und wild war, als sei es einem seiner Romane entsprungen. Allseits respektiert und als haushoher Favorit gestartet, bewarb er sich in jenem Jahr um das Präsidentenamt seines vom sozialistischen Populisten Alan García gründlich ins Elend herunter gewirtschafteten Landes. Vargas Llosa verlor sensationell und er verlor sensationell hoch gegen einen Señor-San, gegen einen Nobody, gegen einen bis dahin gänzlich unbekannten peruanischen Agraringenieur japanischer Abstammung.

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Gegen jede Dogmen. Ein kritischer Geist, die Stimme der Liberalität in Lateinamerika. Mario Vargas Llosa im Garten seiner Villa in Barranco. Photo by Norbert Böer.

Dieser vom Volke eher liebevoll denn despektierlich der Chinese genannte Dozent mit Namen Alberto Fujimori schaffte es in seiner elfjährigen Amtszeit zwar, das Land makroökonomisch zu stabilisieren und auch den Anführer der Sendero Luminoso-Terroristen, den irren Philosophie-Professor Abimael Gúzman, hinter Schloss und Gitter zu bringen. Gleichzeitig überzog Fujimori die Andenrepublik in der dämonischen Gestalt des faktischen Geheimdienstchefs Vladimiro Montesinos mit einem feinen Netz von Korruption und Selbstherrlichkeit. Und als die Knoten dieses Spinnennetzes im November 2000 rissen, da schickte el Chino, der sich auf einer Auslandsreise in Asien befand, aus Tokio seinem Land Peru ein mageres Fax: Er trete als Präsident zurück.

Es hat Vargas Llosa damals hart getroffen, dass nicht er, der brillanteste Sohn der Nation, diese Wahl gewonnen hat. Doch die Indios und Besitzlosen, die Mehrheit der Wähler also, haben ihn einer knappen und harschen Beurteilung unterzogen: zu weiß, zu reich, zu europäisch. Der Japaner Fujimori mit seinem kauzigen Auftreten und dem schlechten Spanisch schien da eher einer der ihren. Für die Intellektuellenwelt freilich bleibt es ein Segen, dass Vargas Llosa die Präsidentenwahl 1990 mit Pauken und Trompeten verloren hat. Sonst hätten die Peruaner einen vorzüglichen Schriftsteller weniger und einen lausigen Präsidenten mehr gehabt.

Vargas Llosa gilt als ein literarischer Tausendsassa. Er schreibt eine wöchentliche Kolumne für die Sonntagsausgabe der spanischen Zeitung El País, er verfasst Romane, bringt Erotika zu Papier, bei der selbst Playboy-Leser ein wenig erröten, er schreibt Theaterstücke, zieht durch Talkshows und dreht – wenn es denn gar nicht anders geht – sogar Kinofilme.

Als Mario Vargas Llosa 1967 den angesehenen Rómulo Gallegos-Literaturpreis entgegennahm, da haben viele seine damalige Dankesrede als flammende Lobrede auf Fidel Castros kubanischen Umsturz und sonstige Revolutionäre auf dem Halbkontinent verstanden. Ob er im Laufe der Jahre seine Ansichten geändert habe? Sehe er die Welt heute in einem anderen Licht? Sicher, ich habe einige Ansichten korrigiert. Aber mehr auf politischem Gebiet. Meine Ansicht über Literatur und literarisches Arbeiten haben sich nicht grundlegend geändert. Politisch gab es eine Zeit, wo ich der marxistischen Analyse sehr nahe stand. Ich glaubte damals an eine Revolution, an eine gewaltsame Änderung der Strukturen in den unterentwickelten Ländern, um unsere Probleme zu lösen. Nach und nach reifte jedoch die Einsicht von der Ungerechtigkeit des Marxismus.

Worin diese Ungerechtigkeit des Marxismus bestehe, möchte ich von dem Schriftsteller wissen. Denn die Abschaffung der Ungerechtigkeit habe er sich ja gerade auf die Fahnen geschrieben. Durch die Einschränkung der politischen, persönlichen und auch künstlerischen Freiheiten schafft man Gesellschaften, die dem Individuum keine Luft mehr zum Atmen lassen. Ich bin Reformer und gegen jede Form der Diktatur. Unser Ziel sollte ein demokratisches Gemeinwesen sein, das nicht nur in einem formalen Sinn funktioniert, sondern dem Volk auch materiell etwas bieten kann. Jahrhunderte lang haben unsere Länder unter diktatorischen Obrigkeiten gelitten, unter korrupten Regierungen und ineffizienten Verwaltungen. Ich bin gegen Heilslehren von links wie rechts. Ich glaube nicht an die absolute Lösung, sondern nur an relative.

Nach Herz und Habitus gilt Mario Vargas Llosa als Vertreter eines aufgeklärten, liberalen Bürgertums in Südamerika. Seit er von 1977 bis 1980 Präsident der internationalen Autorenvereinigung PEN gewesen war, verbindet ihn eine herzliche Abneigung gegen den Deutschen Günter Grass und den Kolumbianer Gabriel García Márquez. Grass messe mit zweierlei Maß, beklagt Vargas Llosa. In Lateinamerika verteidige er Dinge, in Kuba beispielsweise die Einschränkung der Pressefreiheit und der bürgerlichen Rechte, die er sich zu Hause in Deutschland niemals gefallen lassen würde. Gerade die Deutschen sollten sich vor falschem Romantizismus hüten. Fidel Castro sei kein Robin Hood.

Für García Márquez empfinde er aufrichtige Wertschätzung, und den Nobelpreis habe er vollauf verdient. Auch wenn er persönlich einen anderen Südamerikaner – nämlich den Argentinier Jorge Luis Borges – vorgezogen hätte. Und wenn Mario Vargas Llosa den Begriff Literatur-Nobelpreis ausspricht, über solche Schriftsteller räsoniert, die ihn bereits erhalten haben und solche, die ihn eigentlich verdient hätten, dann hatte seine Stimme so etwas schwingendes, etwas ungeduldiges. Er hätte ihn gerne, das wäre sein großer Wunsch, man merkt es ihm an. Doch die Schwedische Akademie der Schönen Künste lässt ihn zappeln. Bis 2010.

Nun hat er ihn bekommen. Zu spät, möchte man klagen, leider viel zu spät. Zwischenzeitlich hat der magische Realismus des lateinamerikanischen Romans viel an Glanz verloren. Der artifizielle Stil eines Vargas Llosa brummelt bei seinen letzten Erzählungen zwar brav, aber doch ziemlich altväterlich vor sich hin. Der Wechsel der verschiedenen Erzählebenen, die Technik der inneren Monologe, das Verschachteln der Handlungsstränge – das sind Erzähltechniken, die anno 1975 elektrisierten. Heute, eine halbe Ewigkeit später, ist all das nicht mehr bahnbrechend und richtungsweisend. Auch junge Wilde kommen in die Jahre. Deshalb mag man das Gefühl nicht ablegen, dieser Nobelpreis komme verspätet, in einem betrüblichen Sinne doch sehr hinausgezögert. Aber verdient, so möchte man schnell hinzufügen, verdient ist er allemal.

siehe auch: Ein Schwede besucht Mario Vargas Llosa

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Freund

There is no friend as loyal as a book.
Es gibt keinen Freund, der so loyal ist wie ein Buch.

Ernest Hemingway

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Mario Adorf, der unvollendete Amazonas-Kapitän

Mick Jagger und Mario Adorf bei den Dreharbeiten zum Film Fitzcarraldo in Peru; Photo by René Pinedo/Collection W. Stock

Iquitos, im Januar 1981

Zu unserem Lieblingsrestaurant in Iquitos wird die Casa Cohen am Jirón Próspero. Das ist ein einfaches, aber hübsches Ecklokal im Zentrum, das nach zwei Seiten zur Strasse offen ist. Die Fassade wurde mit glanzvollen blauen Reliefkacheln geschmückt, die sich hier, im peruanischen Amazonasdschungel, ein wenig surreal ausnehmen.

Als wir in dieser Nachmittagsstunde die Casa Cohen betreten, sitzt nur ein stattlicher Herr mittleren Alters mit Dreitagebart vor seinem kühlen Bier. Irgendwie kommt uns der Mann bekannt vor. Ein deutscher Schauspieler?

Sind Sie nicht Mario Adorf, fragen wir ihn auf Deutsch. Ja, lautet freundlich die Antwort, er drehe hier den Film Fitzcarraldo von Regisseur Werner Herzog. Wir setzen uns an seinen Tisch und Adorf plaudert voller Begeisterung über das Filmprojekt. Ein Film mit Mick Jagger, großartig, da freue er sich drauf wie ein Schulbub, meint der Wahl-Römer.

Am nächsten Tag beobachten wir Mario Adorf am Set. Er spielt den Kapitän der Molly Aida, eines Amazonas-Dampfers, mit dem Fitzcarraldo aufbrechen wird zu den Kautschukfelder im Norden. Adorf steht auf der Reling, neben ihm mit blankem Oberkörper und Strohhut Mick Jagger, der den Wilbur spielt. Fotograf René Pinedo schießt einige Fotos. Sie werden Seltenheitswert erlangen, weil der Film, die erste Fitzcarraldo-Fassung, nicht fertig gedreht werden sollte.

Adorf gibt – in blauen Hosenträgern – einen wunderbar brummeligen Amazonas-Kapitän ab. Die Truppe bricht auf, den breiten Amazonas hinab zu fahren. Kapitän Mario Adorf läutet die Schiffsglocke zur Abfährt. Und im Übermut läutet er die Glocke nochmals. Lauter und lauter. Adorf hat sichtlich Spass an seiner Rolle. Schließlich legt das Schiff unter dem musikalischen Getöse einer kreolischen Musikkapelle ab.

Als wir Mario Adorf das nächste Mal treffen, hat sich seine Begeisterung gelegt. Vielleicht hat er unterschätzt, dass Herzog kein Studio-Regisseur ist, sondern jemand, der seinen Filmen, seinen Schauspielern und sich selber einiges abverlangt. Jemand, der bis an die Grenze geht. In Fitzcarraldo fließt nicht nur Schweiß, sondern auch Blut. Es ereignen sich Unfälle, man zählt Verletzte und Verwundete.

Fitzcarraldo, in diesem Film wird ein Schiff über einen Berg gezogen, kann auch als Hymne an die Willenskraft gesehen werden. Der Film wirkt auf melancholische Art kraftstrotzend und körperlich. Mario Adorf und Werner Herzog funken nicht auf gleicher Wellenlänge. Adorf nennt Herzogs Umgang mit seinen Schauspielern respektlos und Herzogs cineastische Waghalsigkeit bezeichnet er als Menschenschinderei.

Und der ganze Film steht unter keinem guten Stern. Die erste Fassung bleibt, weil Hauptdarsteller Jason Robards schwer erkrankt und aussteigt, unvollendet. Adorfs Rolle spielt in der zweiten Fassung dann ein anderer. Diesen Part übernimmt dann Paul Hittscher, der deutsche Besitzer eines kleines Restaurants außerhalb der Stadt. Jener Paul Hittscher, mit dem ich einmal kräftig aneinander gerasselt bin. Aber das ist eine andere Geschichte.

siehe auch: Wie ich einmal mit Fitzcarraldos Kapitän aneinander gerasselt bin

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Der junge alte Tom Jones

Europa kann nicht gerade viele gute Pop- und Jazz-Sänger vorweisen. Die meisten kommen noch immer aus den Vereinigten Staaten, wo Tradition und Infrastruktur um einiges besser sind als in der alten Welt. Aber wenn man heute nach dem besten seiner Zunft fragen würde, dann würde wohl nicht ein Amerikaner, sondern der Brite Tom Jones ziemlich weit oben auf der Liste stehen.

Dieser Sänger ist ein Phänomen. Dies zeigt das Youtube-Video eindrucksvoll. Denn zwischen beiden Aufführungen von Fly me to the moon liegen, man mag es kaum glauben, schlappe 38 Jahre. 1969 in seiner Fernsehshow This is Tom Jones und 2007 im chilenischen Viña del Mar.

Aber auch der alte Tom Jones ist ein Junger. Noch immer hat der Waliser Tom Jones eine kraftvolle, klare Stimme. Was ihn auszeichnet: Er kann Bariton als auch Tenorstimme singen und seine Stimmumfang deckt sicherlich drei Oktaven ab.

Tom Jones ist einer der wenigen Crooner, die auch heute noch im gut Geschäft sind. Er überzeugt übrigens auch als jemand, der sich dem Neuen immer geöffnet hat, siehe Kiss oder Sexbomb, wo er HipHop-Elemente einbaut. Kein Zweifel, Tom Jones ist – gestern wie heute – einer der ganz Großen.

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Konrad Kujau – ein Original als Fälscher

Welches dieser beiden Bilder ist das Original? Und welches ist die Fälschung? Ist nun das linke oder das rechte Bild von Pablo Picasso?

Gut, der Kunstliebhaber und Sammler erkennt schon die Unterschiede. Als Beispiel: In dem rechten Bild ist erkennbar mehr Spannung drin, in der Aufwärtsbewegung des Stieres, beim Torero. Der Schweif des linken Stieres ist ziemlich verunglückt. Nun ja, daran erkennt das Expertenauge: Rechts, das ist der echte Picasso.

Wobei man sagen muss, die linke Fälschung ist schon sehr gut. Sie stammt von einem Mann, der eine große deutsche Wochenillustrierte – und mit ihr gleich eine ganze Nation – über Wochen zum Narren gehalten hat. Konrad Kujau heißt der Fälscher.

Kujau war kein Kopist, sondern hat sich immer als Fälscher bezeichnet. Darauf legte er Wert: Keine Kopien zu malen, sondern Falsifikationen. Denn meist malte er im Stil eines Malers, aber er malte keine Bilder ab. Hier hat er eine Ausnahme gemacht.

Aber dieser Konrad Kujau war schon Spitze. Wie er bei der Fälschung den Bodenschatten gemalt hat, das gefällt mir besser als im Original, auch die Beine des Toreros. Man sieht, kein Zweifel, nicht nur malerisch war Konrad Kujau ein Schlitzohr. Kujau signierte deutlich mit der Unterschrift des Maestro und in die rechte untere Ecke plazierte er – kaum lesbar – sein Signet Kujau.

In seiner 50qm-Kellergalerie in Stuttgart wimmelte es von van Goghs, Toulouse-Lautrecs und Cesannes. Hier, im länglichen Souterrain der Schreiberstrasse 22, hingen neben den Gemälden und Skizzen auch allerlei Handschriften und Notenblätter. Befehle vom alten Fritz oder Partituren von, drunter tut Kujau es nicht, vom Wunderkind Wolfgang Amadeus Mozart. Das vergilbte Papier hübsch eingerahmt.

Ich besuchte Anfang der 90er Jahre die Galerie zwei- oder dreimal und fand den Meisterfälscher als kauzigen Spaßvogel mit fleißiger und kundiger Fälscherhand. Ich brauche heute nachmittag noch etwas Geld für’s Einkaufen beim Aldi, meinte er damals verschmitzt zu mir, da male ich noch schnell einen Matisse.

Am meisten lag ihm Pablo Picasso. Ein Normalmensch würde einen Kujau-Picasso für einen echten Picasso halten. So wie hochdekorierte Schriftexperten die Handschrift Kujaus für die Hitlers gehalten haben. Und nun ist Konrad Kujau selbst ein Star, der, als kuriose Fussnote, nun selbst kopiert wird. Fälschungen werden gefälscht.

Aber Kujau bleibt eine amüsante Fussnote im Kunstbetrieb. Als penibler Hitler-Fälscher wanderte er durch die Gazetten. Der Fälscher, so windig sein Metier auch sein mag, hat die Lacher auf seiner Seite. Über die Jahre wurde Konrad Kujau salonfähig. Aus einem falschen Picasso wird nun ein echter Kujau.

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Henry Kissinger am Büdchen

gefunden in Mexico City 1988

Henry Kissinger verehre ich als elder statesman. Als jemand, der sich Verdienste erworben hat, als jemand, auf den man hört und dem man gerne zuhört. Im Düsseldorfer Industrie-Club haben wir einmal kurz geredet, ein hochintelligenter Mensch.

Wir wissen, Henry Kissinger war ein großartiger Außenminister der USA. Der beste im 20. Jahrhundert. Ein Stratege, wie ihn die amerikanische Außenpolitik nur selten kannte. Den Friedensnobelpreis bekam er, weil er die Friedensverhandlungen mit Vietnam zum Erfolg führte.

Überdies ist der in Fürth geborene Henry Kissinger ein sympathischer und vor allem seriöser Zeitgenosse. Deshalb fuhr mir der Schreck in die Glieder, als ich an einem Kiosk in der mexikanischen Hauptstadt, in der Schmuddelecke, ein Heftchen entdeckte.

Si la cama hablara…Wenn das Bett sprechen könnte, so der verheißungsvolle Titel. Und der Autor: Henry Kissinger. Auf dem Umschlag des Büchleins räkelt sich in voller Schönheit eine nackte Frau auf einer Matratze. Verkauf einzig nur an Erwachsene.

Coleccion Couple – so ist auf der Rückseite des Taschenbuches zu lesen. Die Buchreihe für das moderne Eheleben, möchte man sagen. Und ein schönes rotes Herz lacht uns an. Erotische Romane von Spitzenautoren des Genres, steht da weiter geschrieben. Ich kaufe Kissingers Büchlein für ein paar Pesos. Und fange an zu lesen…

Das junge Ehepaar, frisch verliebt, betritt ein Möbelgeschäft mit der Absicht, Möbel zu kaufen, um sich sein zukünftiges Heim einzurichten…beginnt der Roman etwas sperrig, um dann aber doch schnell zur Sache zu kommen, in puncto körperliche Ertüchtigung. Auf 96 Seiten Erotisches, allerdings der eher einfach gestrickten Art.

Ein solch schmieriges Machwerk soll aus der Feder von Henry Kissinger stammen? Dem konservativen Doktor Kissinger aus New York? Hier am Büdchen in Mexiko-Stadt? Wir staunen und blättern weiter. Schnell naht die Aufklärung. Auf Seite 3 wird noch einmal Titel und Autor aufgeführt. Si la cama hablara, noch immer will das Bett sprechen.

Nun aber heißt der Autor nicht wie auf dem Cover zugkräftig Henry Kissinger, sondern Henry Singer. Da hat man auf dem Umschlag ein KIS zu viel gedruckt. Also, Henry Singer und nicht Henry Kis-singer ist der Autor. Oh, das war sicherlich eine Unachtsamkeit des Verlages, eine harmlose Silbe mehr als Präfix, vielleicht hat der Lektor für ein paar Sekunden geschlafen. Honi soit qui mal y pense. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

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Warum ist Cool Jazz so cool?

Miles ist cool. Chet ist cool. Und der Pianist Lennie Tristano ist der coolste überhaupt. Kein Wunder, bei dem Namen! Aber, liebe Leute, was ist das eigentlich, Cool Jazz?

Die Antwort darauf fällt nicht ganz leicht, eigentlich kann man sich der Antwort nur nähern. Versuchen wir es so: Während der Bebop extrovertiert, hektisch und zappelig war, so ist der Cool Jazz nun wieder mehr nach innen gekehrt und kontemplativ.

Diese Musik ist denn auch weniger bein-, sondern mehr kopfgesteuert. Sie ist europäischer, wenn man so will, konzertanter, reflektierter. Von den Ursprüngen des Jazz entfernt sich der Cool Jazz ein wenig, er ist nicht so schwarz und nicht so afroamerikanisch wie der pure Jazz. Blues-Elemente verlieren an Bedeutung. Ja, man kann sagen, der Cool Jazz zeigt sich eher als eine weiße Musik.

Beim Cool Jazz geht auch nicht die Post ab. Es dominieren eher die langsamen tempi. Jetzt kommen weit geschwungene und lang gezogene Melodiebögen. Dazu eher gehauchte und gedämpfte Töne, ganz ohne Vibrato. Der Ton der coolen Trompete beispielsweise wirkt wie eingefroren, er klingt kurz, durchdringend und harsch wie bei dem jungen Miles Davis. Trotz dieses rauen Charakters geht von dem coolen Ton zugleich auch etwas fragiles aus. Und wohl auch etwas liebliches.

Die Melodiebewegung scheint zu retardieren. Sie schleppt sich mühevoll durch den Song, irgendwie langsam, so als wolle sie eigentlich gar nicht zum Ende kommen. Die  ganze Tonführung wandelt auf dem Grat von Traurigkeit und Bitterkeit auf der einen und Zartheit und Zerbrechlichkeit auf der anderen Seite.

Cool Jazz ist nicht nur ein Musikstil, es ist auch eine Lebensauffassung. Sie passt beispielsweise zum Pariser Existenzialismus der 50er Jahre. Der Cool Jazz wird zur Musik der Verlorenheit, der Melancholie. Dieser merkwürdige Ton scheint traurig, und doch strahlt er eine gewisse Zartheit aus. Der Cool Jazz mag als kühle Musik daher kommen, aber nicht ohne Hoffnung.

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Keine Touristen in Havanna

Photo by W. Stock

Die einst schönen Prachtvillen, nun im Staatseigentum, verfallen. Foto: W. Stock

Havanna, im April 1983

Das sozialistische Kuba hat sich erst 1985 dem westlichen Tourismus geöffnet. Davor war nicht viel, eher Richtung Nordkorea, Besucher aus kapitalistischen Ländern jedenfalls waren unerwünscht. Über drei Ecken gelang es mir jedoch, im Frühjahr 1983 auf die Insel zu kommen. Mit einer Gruppe Reisender aus Mexiko.

Havanna strahlt in jenen Tagen den Charme einer verlotterten Stadt aus: zerstörte Strassen, zerbröselnde Hausfassaden, ärmlich gekleidete Menschen. Ein sympathischer Charme durchaus, auch deshalb, weil der Mangel und die Not mit einer spürbaren Lebensfreude einher gehen.

Man merkt an jeder Strassenecke, hier haben Linke und Revolutionäre das Sagen. Die verfallenden Villen zeugen davon, dass ein altes System zerstört wurde, ein neues aber keinen Erfolg gebracht hat. Die Trostlosigkeit bleibt.

Der Pein des Alltags begegnen die Kubaner jedoch mit einem Lächeln, einer flotten Salsa-Melodie und einem Schluck Rum. An den Strassen statt Produkt-Reklame nun politische Reklame. Patria o Muerte. Vaterland oder Tod. Proletarier aller Länder, vereinigt Euch! und ähnliches aus dem reichen Spruchbeutel einer Revolution.

Wir wohnen im Capri, einem hohen, breiten Tophotel, dem man die Jahre und der vergangene Luxus so langsam ansieht. In vorrevolutionären Tagen hatte die Mafia Kubas Hauptstadt fein aufgeteilt, Havannas Nächte hörten auf das Kommando der Bosse aus Chicago und New York. Über das Capri herrschte der Spitzbube Nicholas di Constanzo. Wenn der Obergangster Al Capone in Havanna weilte, ließ er sich immer das Zimmer 615 des Hotel Sevilla in der Calle Trocadero reservieren. Und für seine Bodyguards und den weiblichen Anhang gleich das ganze restliche sechste Stockwerk.

Heute werden die wenigen Touristen aus kapitalistischen Ländern neugierig in Augenschein genommen und ziemlich aufdringlich belästigt. Haste mal ‘nen Dollar, ‘nen Kaugummi, ‘nen Kugelschreiber? Willste mal ‘ne Havanna-Zigarre, ‘ne Flasche Rum, ‘nen heißen Tipp. Und die hübschen Frauen lächeln auch hässliche Männer an.

Jenseits aller Propaganda bekomme ich Gelegenheit mich von der Qualität des kubanischen Gesundheitswesen zu überzeugen. Denn kurz vor Mitternacht plagen mich grausige Schmerzen im Ohr. Rechts. Der Nachtportier des Capri, den ich um Rat frage, schickt mich zur Nachtambulanz des nächstgelegenen Hospitals.

Da es in Havanna so gut wie keine Taxis gibt, tigere ich zu Fuß durch das nächtliche Havanna. Die Luft ist noch lauwarm und selbst nach Mitternacht spürt man die Gluthitze der Karibik. Das Calixto-García-Krankenhaus liegt gleich neben der Universität und verarztet seine Patienten in drei Schichten rund um die Uhr. Ich trage an der Rezeption mein Begehren vor und werde in ein kleines Patientenzimmer geschickt.

Ein etwas verschlafener HNO-Arzt schaut in mein Ohr und diagnostiziert eine Vereiterung. Auf einem blanken Zettel verschreibt er ein Antibiotikum. Als ich nach dem Preis der Behandlung frage und das Portemonnaie zücke, wehrt mein Ohrendoktor stolz ab. „Kostet dich nichts. In Kuba ist Krankenbehandlung umsonst.“ Duzen inbegriffen. Man dankt. Eine sehr adrette Krankenschwester winkt mir nach.

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