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Reisen & Begegnungen

Die Post vom Papst

Staat Vatikanstadt, im Juni 2008; Photo by W. Stock

Der Vatikan. Dies ist der kleinste souveräne Staat der Welt. Wenn man ihn strammen Schrittes durchquert, dann ist man nach drei Minuten durch. Ganze 0,44 Quadratkilometer misst das nationale Territorium. Kleiner ist keiner.

Über diesen Staat Vatikanstadt, so die offizielle Bezeichnung, gibt es einige bemerkenswerte Besonderheiten und Kennzahlen zu berichten. Dieser Staat hat beispielsweise die höchste Alphabetisierungsquote der Welt. Genau 100 Prozent. Es können nämlich alle ihrer circa 900 Bewohner Lesen und Schreiben. Die meisten davon gleich in mehreren Sprachen.

Auch hat dieser Staat eine eigene Bank. Wenn man zum Geldautomaten des Istituto per le Opere di Religione geht, wird man im Display in lateinischer Sprache begrüsst. Das ist einzigartig auf der Welt. Und reich ist dieser Staat, so reich an Immobilien und an Kunstschätzen, dass keiner eine genaue Summe nennen mag.

Eine Mehrwertsteuer ist schier unbekannt in dieser von Rom umschlossenen Enklave. Reklame gibt es auch nicht, jedenfalls keine für Firmen und weltliche Produkte. Ein Friseurgeschäft wird man auch nicht finden.

Aber eine Post, die existiert, und sie funktioniert sehr gut. Und vatikanische Briefmarken kann man auch kaufen. Das Postamt ist immer voller Menschen, fast alle sind Touristen.

Jetzt wird es kurios. Zwar hat dieser Mini-Staat eine Fussball-Nationalmannschaft, aber keinen Rasenfussballplatz. Deshalb wird das Team von der FIFA nicht anerkannt. Das letzte Ergebnis, ein Freundschaftsspiel, war ein 0 zu 0 gegen Monaco, einen anderen Zwergenstaat.

In diesem Staat erscheint eine eigene Zeitung, der L’Osservatore Romano, der an sieben Tagen in der Woche von Montag bis Sonntag veröffentlicht wird. Und der eine interessante Internetseite betreibt, und das gleich in mehreren Sprachen.

Es gibt allerdings kein Hotel in diesem Staat, dafür aber ein Gefängnis. Es bietet Platz für zwei Gefangene, der Knast wird aber seit Jahrzehnten als Lagerraum genutzt.

Proportional zur Einwohnerschaft verzeichnet dieser eigentlich friedfertige Staat die höchste Kriminalitätsrate der Welt. Doch die Taschendiebe und Kleinkriminelle auf dem Petersplatz kennen einen netten Trick, sich der vatikanischen Justiz zu entziehen. Die Spitzbuben schlendern 50 Meter nach links oder rechts und haben sich damit aus dem Staub gemacht – über die Staatsgrenze hinweg auf italienisches Territorium.

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Champions League hui, Bundesliga pfui!

Photo by W. Stock

Am Mittwochabend das Champions League-Spiel FC Bayern München gegen den FC Basel in der Allianz Arena. Ein flottes, unterhaltsames Match, das mit einem souveränen 3 zu 0 für die Bayern endete.

Die Münchner spielten gefällig, flott und ansehnlich. Insbesondere Spieler, die sonst nicht so im Mittelpunkt stehen, lieferten eine ansprechende Leistung ab. So Thomas Kraft, Anatoly Tymoshchuk und Diego Contento. Und endlich trat der FC Bayern als geschlossene Mannschaft auf.

Denn daran hapert es in dieser Saison. Die Mannschaft präsentiert sich nicht als Mannschaft. Und eine Ansammlung von exzellenten Solisten macht eben noch kein erfolgreiches Team. Die Mannschaften, die in der Bundesliga ganz oben stehen – Dortmund, Mainz, Leverkusen, Freiburg – überzeugen vor allem durch kompaktes Mannschaftsspiel.

Sicher besitzen Mannschaften wie Schalke, Wolfsburg, der HSV und auch Bayern die besseren Einzelspieler, aber es ist diesen Teams nicht gelungen, daraus eine Einheit zu formen. Nur wenn dies gelingt, wird der FCB aus dem Niemandsland der Bundesliga-Tabelle wieder ganz nach oben vorstossen können.

Diese Analyse soll die Verdienste in der Champions League nicht schmälern. Die europäische Bilanz der Bayern liest sich beeindruckend: Von sechs Gruppenspielen wurden fünf gewonnen. Am Mittwoch wurde der siebte CL-Heimsieg in Folge verbucht, die Torausbeute von 16 Treffern bedeutet einen neuen Vereinsrekord in einer Gruppenphase der Champions League.

Man darf sich also auf das Achtelfinale freuen, mit hohen Erwartungen. Nicht auszuschließen, dass die Champions League auf ein kurioses Finale zusteuert: Schalke 04 gegen FC Bayern München. Dann würde nämlich Europas bester Verein zwischen dem Mittelfeld und dem Abstiegskandidaten der Bundesliga ausgespielt.

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Kaffee aus Togo?

gefunden in Westerland/Sylt, im Mai 2008; Photo by W. Stock

Woher kommt der Kaffee? Kaffee aus Togo? Oder vielleicht doch aus Brasilien?

Wir wollen nicht kleinlich sein, von mir aus also: Coffeetogo. Klingt überaus apart.

Doch selbst wenn das Kaffeehaus auf Sylt die beiden Leerstellen beachtet hätte, so bleibt diese Werbung von Allegretto ein ziemlicher Kokolores.

Denn falls dieses Werbedisplay einen Coffee to go anbieten sollte, so wissen wir noch aus der Physik, dass ein Kaffee nicht gehen kann. Denn eine heiße, schwarze Brühe hat bekanntlich keine Beine und vermag sich folglich nicht selbstständig fortzubewegen.

In korrektem Englisch heißt dies natürlich – Lernstoff 6. Klasse – Coffee to take away.

Wie dem auch sei. To go, to take away. Hauptsache, es klingt Englisch und es klingt hübsch!

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Die Clavadistas von Acapulco

In Acapulco gelingt es mir, hinter der Quebrada, oberhalb des schon reichlich angejahrten Hotels El Mirador, einen kleinen Bungalow zu mieten. Ich wohne nun direkt über dem Meer, auf der Felsklippe, und des nachts höre ich das sanfte Rauschen der Brandung. Das ockerfarbene Dach meines Bungalow bildet eine erfrischende Beimischung zum Azurblau des Pazifik und auch zum saftigen Grün der Palmen. Habe ich schon einmal schöner gewohnt?

Abends, auf dem Weg vom Zócalo zu meiner neuen Bleibe, komme ich an dem Schauspiel vorbei, welches die Quebrada und damit auch Acapulco in der ganzen Welt berühmt gemacht hat.

Vier, fünf Jugendliche klettern eine steile Felswand empor, bekreuzigen sich oben angekommen vor einem kleinen Marienaltar, steigen auf einen Felsvorsprung, warten auf günstigen Wind und die richtige Welle, um sich dann, die Arme weit ausgebreitet, mit einem tollkühnen Kopfsprung 35 Meter tief in den gerade mal fünf Meter schmalen, tosenden Spalt des Pazifiks zu stürzen. Und das mit über hundert Stundenkilometern.

Ist das Supermann, fragt ein kleiner Junge seine Mutter, die beide neben mir stehen. Nein, antwortet die Frau, das sind die Clavadistas von Acapulco. Die Felsspringer von Acapulco. Dieses Ritual vor staunendem Publikum wiederholt sich einige Male am Abend, mal springen die Halbwüchsigen alleine, dann zu dritt und zum Abschluss mit brennenden Fackeln in der Hand.

Angefangen hat das Ganze in den 50er Jahren, zunächst als übermütige Tollheit einiger Jugendlicher aus den Slums. Zwei Männern verdankt das Felsspringen seinen späteren weltweiten Glanz. Da ist zum einen der Veteran der Clavadistas, Raúl García Bravo, das  Idol aller jungen Springer. Über 37.000 Mal ist er in die Tiefe gehechtet, beim letzten Sprung war er schon Mitte 60. Und dann muss man Teddy Stauffer nennen, den hierhin emigrierten Schweizer Swingmusiker und Mister Acapulco, der das touristische Potential des Spektakels erkannte und der die Clavadistas als Manager des in den Fels gebauten La Perla Nightclubs zum Markenzeichen dieser Stadt machte.

Ich habe vor dreißig Jahren die Felsspringer zum ersten Mal bestaunt, als das Gelände noch nicht abgeriegelt war und man sich noch keine Eintrittskarte ziehen musste. Bei meinen späteren Besuchen war das Schauspiel dann schon, leider, leider, als kalte Touristenfalle angelegt. Vollgestellt mit Bussen, die Menschen von den Kreuzfahrtschiffen oder sonstwoher herankarrten, alles straff durchorganisiert, auf Effekt gepolt, ganz ohne Herzblut.

Das scheint die Logik der Zeit, so wie die Schönheit mit den Jahren ihre Unschuld verliert. Darauf nun wirklich einen Johnnie Walker.

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Hemingways „La Finca Vigía“

San Francisco de Paula/Kuba, im April 1983; Photo by W. Stock

Eine halbe Autostunde von Havanna entfernt hat Ernest Hemingway über zwanzig gute Jahre gelebt. In dem Nest San Francisco de Paula war er weit weg vom oberflächlichen Leben der Intellektuellen in New York, von dem Partygegacker in London und dem aufgeblasenem Getue seiner Altersgenossen in den literarischen Salons von Paris.

Wenn man die Landstrasse hinter San Francisco de Paula nach links abbiegt, so erhebt sich auf einem Hügel hinter dichtem Waldgestrüpp ein milchweißes Landhaus. Auf Finca Vigía war Ernest Hemingway der Natur nahe. Ich empfinde eine große Zärtlichkeit und Bewunderung für die Erde und keine Spur davon für meine Generation.

Martha Gellhorn, seine Ehefrau Numero drei, hatte La Vigia ausfindig gemacht, und 1939 war das Paar zur Miete eingezogen. Später kaufte der Dichter die Finca für 18.500 kubanische Pesos. In La Vigia verbrachte Hemingway das letzte Drittel seines turbulenten Lebens, es sollten heitere und angenehme Jahre werden.

Aus seiner besten Manneszeit heraus, kapselte sich Hemingway mehr und mehr von der Welt ab. Aus dem Abenteurer wurde ein Familienmensch, der mit seinen Söhnen gerne auf dem türkisblauen Wasser der Karibik segelte.

Von 1939 bis 1960 lebte Hemingway in der eingeschossigen Finca La Vigia, die im 19. Jahrhundert als spanische Zitadelle erbaut worden war. Hinter dem Wald aus Caña-Bäumen und durch eine üppige Vegetation aus Palmen, Avocadobäumen, grünen Farnsträuchern und Bougainvilleen befindet sich das flache Herrenhaus mit dem aufrechten Turmbau.

Im Wohnzimmer hängt das imposante Stierkampfposter Roberto Domingos an der weißen Wand, daneben zwei Hirschgeweihe. In der Ecke steht eine Zeitschriftenbox mit vergilbten Newsweek– und Spectator-Ausgaben. Whisky- und Ginflaschen, Campari, Tequila und Tom Collins recken auf dem Wohnzimmertisch die Hälse.

Der Stil des Hauses verbindet lässig karibische Lebensfreude mit amerikanischer Weltläufigkeit. Der Tisch inmitten des Esszimmers ist mit Tellern und Gläsern fertig gedeckt. So, als erwarte man jeden Augenblick die Rückkehr des Hausherrn. Verlassen steht auf dem kargen Bücherbord im Schlafzimmer eine schwarze, verrostete Royal-Reiseschreibmaschine. Sein ehemaliger Benutzer bevorzugte im Stehen, aufrecht, zu schreiben. Autoren sollten stehend an einem Pult schreiben, meint er, dann würden ihnen ganz von selbst kurze Sätze einfallen.

Dem Haus angeschlossen ist der dreistöckiger Turm. Er war 1947 angebaut worden, damit der Autor dort in aller Ruhe Schreiben konnte. Ich lebe gerne hier, pries Hemingway in einem Holiday-Artikel 1949 sein kubanisches Refugium, weil ich im frischen Morgenklima besser und bequemer schreibe und weil man hinter die Telefonklingel ein Stückchen Papier klemmen kann.

Auf Kuba suchte er Harmonie und Ruhe. Hier schloß er Frieden mit seiner Kühnheit und der Virilität des Lebens, hier war er ein Mensch in Shorts und ohne grosses Brimborium, hier war er der Vater der Kinder und der Mann der Frau. Hier war Ernest Hemingway nicht der gefeierte Autor, auch nicht der Nobelpreisträger, sondern der Mann, den man Papa rief und den die Bewohner schlicht und einfach Don Ernesto nennen.

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Arnett Cobb – der Saxophonist, der nicht gehen kann

Den Haag, im Juli 1978; Photo by Volker Wagner

In der Rückschau fragt man sich, welches denn der schönste Jazz-Song war, den man je im Konzertsaal erleben durfte. Da könnte ich einige aufzählen. Der allerschönste Jazz-Moment, live und heftig, jedoch fällt mir sofort ein. Es ist Sommer, ein Juli im Jahr 1978.

Arnett Cobb, ein Tenorist mit einem dunklen, erdigen und vollen Ton, der auch The wild man from Texas genannt wird. Ein Autounfall hat ihm in den 50er Jahren beide Beine zertrümmert, so dass er sich nur noch auf Krücken fortbewegen kann.

Nun steht dieser Mann, von Krankheit gezeichnet, fröhlich auf der breiten Bühne, zwischen zwei Krückstöcken eingehängt. Er hebt das wuchtige Tenorsaxophon, und bläst so, als ob der Teufel hinter ihm her sei. Und wahrscheinlich ist der Teufel ja wirklich hinter ihm her.

Man spürt, dieser Arnett Cobb bläst um sein Leben, er bläst gegen die verdammte Krankheit, gegen die Krücken und er bläst gegen den Tod. Da kommt eine Menge zusammen.

Arnett Cobb is back nennt er trotzig seine Schallplatte aus dem Jahr 1978. Und das ist er jeden Abend, bei jedem Konzert. Er ist zurück, oder besser, er ist noch da, dieser lyrische Tenor mit seinem ruppigen Ton.

Ihm zur Seite an diesem Abend, Lionel Hampton, der Meister des Vibraphons, einer der ganz Großen der Swing Ära. Schon seit 1942 musizieren sie zusammen. Sie spielen einen langsamen Song, eine Ballade, ich glaube es war Misty von Erroll Garner.

Nur die beiden. Tenorsaxophon und Vibraphon. Alleine auf der Bühne. Misty. Unerreicht. Es ist ganz still im Saal. Der Song vollendet ein Leben. Arnett Cobb ist jetzt ganz nahe bei Gott.

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unschuldige Wörter

Hemingway Lounge in Wiesbaden; Photo by W. Stock

All my life I’ve looked at words as though I were seeing them for the first time.
Mein ganzes Leben lang habe ich Wörter bestaunt, so als ob ich sie das erste Mal sehen würde.

Ernest Hemingway

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Die mexikanische Krankheit

Dies ist ein Auszug aus dem Buch von Wolfgang Stock Schneefall in den Tropen:

Wie viele seiner Landsleute hat der US-amerikanische Regisseur John Huston Mexiko zu seinem Altersruhesitz erwählt. Der gute alte Gringo John ist kein Hollywood-Mann, sondern eher ein europäisch infizierter Intellektueller, der ein paar der besten Filme aller Zeiten gedreht hat. Seit er als junger Kerl für kurze Zeit bei der mexikanischen Kavallerie war, liebt er dieses Land wahrscheinlich mehr als sein eigenes.

Vom mexikanischen Fernsehen wird John unter der Sonne Puerto Vallartas in diesem Jahr 1982 dann zu allerlei Sachverhalten befragt: Wie er den neugewählten Staatspräsidenten einschätze, was von der Handelsunion zu halten sei und ob der mexikanische Film, dessen Komödien eines Cantinflas oder die Melodramen einer María Félix einst die Kinosäle füllten, sich wieder aufrappele? Und der hagere, bärtige alte Mann antwortet dann in höflichem Spanisch und mit seiner tiefen gutturalen Stimme, ja, den neuen Präsidenten halte er für einen Ehrenmann, und Mexiko werde durch die Handelsunion einen Vorteil wahrnehmen und, flunkert er, die neuen Filme in Mexiko seien doch im Grunde ganz annehmbar.

John fühlt sich wohl in diesem Land. Die Gastfreundschaft der Mexikaner sucht ihresgleichen. Der mysteriöse B. Traven, Anna Seghers, Jacobo Arbenz und Egonek fanden in dem Land Zuflucht. Die Liste der Schriftsteller und Künstler, die in Mexiko Unterschlupf fanden, ließe sich seitenlang fortsetzen. Die schöne italienische Avantgarde-Fotografin Tina Modotti und der deutsche Autor Gustav Regler. Der spanische Filmregisseur Luis Buñuel, der in seiner neuen Heimat Mexiko düstere Filme wie Los Olvidados drehte, die mit einem bis dahin auf Leinwand  nicht gesehenem sozialen Elend erschreckten.

Der deutsch-französische Schriftsteller Max Aub kam 1942 nach Mexiko, direkt aus dem berüchtigten französischen Arbeitslager Le Vernet d’Ariège y Djelfa im Norden der algerischen Sahara. Der Dichterkönig Pablo Neruda aus Chile fand Exil in Mexiko. Der Meister aller Klassen, Gabriel García Márquez, hat in Coyoacán sein Haus, weil er sich lange Jahre nicht nach Kolumbien traute. Der Autor Malcolm Lowry, der in Cuernavaca sein wildes Trinkerepos Unter dem Vulkan schrieb. Oder der US-Amerikaner Jack Kerouac, die Ikone der Beatnik-Generation. Er rotze in Mexiko seine besten Geschichten über das Leben und die Liebe auf Papier. Wenn man sich die Biografien von Verfolgten und Vertriebenen anschaut, die Chance, dass als Fluchtpunkt das Land Mexiko auftaucht, ist so unwahrscheinlich nicht.

Seit der unabhängigen und patriotischen Politik des Präsidenten Lázaro Cárdenas in den 30er Jahren stellen die mexikanischen Visa-Ämter weniger strenge Fragen als die Einwanderungsbehörden anderer Nationen. Mexiko ist ein zugeneigtes Land für Intellektuelle. Als in Spanien die republikanische Armeen den blutrünstigen Franquisten unterlagen, da hat Mexiko nach 1939 Hunderte von Schriftstellern und Philosophen, Pädagogen und Malern, Musikern und Architekten, Wissenschaftlern und Filmemachern aufgenommen. Der Dichter Luis Cernuda oder der Philosoph José Gaos brachten moderne Ideen nach Mexiko, die das Land gerne annahm. Aber da war mehr. Der Großmut der Mexikaner saß tief; als einziges Land Lateinamerikas hat es nie die Diktatur des tumben Francisco Franco anerkannt.

Mit einem kräftigen abrazo, einer herzlichen Umarmung, hat man sie empfangen, die Menschen, die gerade einen Bürgerkrieg, ihr Hab und Gut und auch ihr Vaterland verloren hatten. Selbst wer nur sein nacktes Leben retten konnte und ohne Papiere ankam, der brauchte nur zwei mexikanische Bürgen beizubringen – und schon durfte er da bleiben. Die Intellektuellen wurden integriert und machten ihren Weg, an den Hochschulen, in der Kunst und der Wirtschaft.

Mexiko ist in dieser Hinsicht ein freundliches Land für Geist und Hirn. Das Land nimmt Verfolgte und Flüchtlinge – die Bekannten und Berühmten, aber auch Tausende Namenlose – mit breiten, offenen Armen auf. Diese von Kopf und Herz bestimmte Einwanderungspolitik und die allgegenwärtige Gastfreundschaft der Menschen lassen dem Land in den Augen der Verfolgten paradiesische Züge angedeihen. Leute, die in Mexiko waren, schrieb Sergej Eisenstein, haben die mexikanische Krankheit. Mit Hartnäckigkeit verfolgt einen der Gedanken, dass Eden durchaus nicht irgendwo zwischen Euphrat und Tigris gelegen hat, sondern irgendwo hier zwischen dem Golf von Mexiko und Tehuantepec.

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dugdugdug, mein Hühnchen!

gefunden in Wiesbaden, im Mai 2008; Photo by W. Stock

Man sollte sich vergegenwärtigen, so ein Firmenschild kostet eine Menge Eurones. Und, möchte man glauben, nicht zuletzt deshalb, sollte es auch gut zu lesen sein.

Eine saubere, klare Schrifttype, ein Buchstabe nach dem anderen, die dann in der richtigen Reihenfolge sinnvollerweise auch ein Wort ergeben. Ein Wort, das sich unserem kleinen Hirn dann auch erschließt.

Hier eine Probe aufs Exempel. Wie nennt sich dieser Laden hier in Wiesbaden denn: dug, dwg, dwy, oder was?

Welchen Sinn, um alle Welt, besitzt denn dieser einsame orange Punkt vor dem Wort? Er sieht aus, als habe jemand seine Butterbrotdose auf dem Simms liegen gelassen.

Anderes Mysterium: Wie spricht man dug aus? Dack, duck, dock? Die drei Science Fiction-Buchstaben lassen einen doch ziemlich ratlos. Ich nix lesen können. Nix lesen, nix verstehen.

Und die Frage aller Fragen: Was gibt es denn hier zu kaufen? Duggies? Oder Dug-Ware? Ist das gar eine Dugerie? Vielleicht ist dug ein englischer Begriff? Und damit sind wir dann ganz auf dem Bauernhof gelandet. Dort meint dug die Zitze vom Euter bei der Kuh.

Also, vielleicht gibt es hier Milch. Weit gefehlt. Im Zitzen-Laden werden Handys und Telefonverträge verkauft. Kein Kuhstall, sondern IT. Darauf muss man erst mal kommen.

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Es rrrummst im New Journalism

Der New Journalism ist so etwas wie die Kulturrevolution des Schreibens. Subjektivität statt Objektivität, Nähe statt Distanz. Rrrumms statt Analyse. Die neue Reportage hat dann nur noch wenig von der vermeintlichen Sachlichkeit des traditionellen Journalismus.

Diese neue Art des Schreibens wird von der Beat Generation, vor allem von Jack Kerouac, beeinflusst. Der Kerl konnte wunderbare Sätze schreiben, die über eine volle Buchseite liefen und trotzdem fraß ihn das Heroin auf. Aber auch Ernest Hemingway oder Jack London mit ihrem erzählerischen Schreibstil prägen den New Journalism. Und wenn richtig gut geschrieben wird, dann ist diese neue Art der Reportage die Veredelung des Journalismus zur Kunstform.

Die Erzählweise des New Journalism benötigt intensive Recherche, manchmal muss man sich wochenlang an die Fersen einer Person hängen. Auch sollte man genau hinschauen und sehr detailverliebt schreiben. Wenn man dies beherzigt, dann muss der Leser aus den Zeilen den Duft riechen, die Farben sehen und den Rabatz hören können. Eine solche Reportage besitzt dann nicht nur Gefühl und Gespür, sondern auch Tempo und Temperament.

Der Autor darf sich selbst einbringen. Hier das rechte Maß zu finden, ist eines der Qualitätsmerkmale des New Journalism. Manche haben das übertrieben, anderen will es gar nur schwer gelingen, die Erzählperspektive abrupt zu ändern.

Der New Journalism erlebt seine Blütezeit in den 60er und 70er Jahren. Hunter S. Thompson schreibt für den Rolling Stone. Gay Talese und Tom Wolfe für Esquire. Truman Capote und Norman Mailer veröffentlichen eher Bücher.

Und da ist einer wie Michael Herr, wieder für Esquire, der Chronist der Dispatches aus dem Krieg in Vietnam. Wir waren alle in die Sitze der Chinook geschnallt, fünfzig waren wir, und irgendwas, irgend jemand schlug von draußen mit einem kolossalen Hammer drauf.

Gerade Sujets wie Kriege, Gewalt und Unterdrückung schrien nach der spürbaren Emotionalität des New Journalism. Ein Krieg musste nach Blut stinken, nach Angstschweiß und Tränen, nach vollgeschissenen Hosen – und nicht nach distinguierter Poetentinte.

Heute, man muss es so sagen, ist der New Journalism passé. Alle Schauplätze wurden besucht, alle dunklen Ecken sind ausgeleuchtet, jeder Nerv wurde gekitzelt. Und die neue Schreibergeneration kommt bei weitem nicht an die Qualität ihrer Vorbilder heran. Der New Journalism ist, seien wir aus Respekt höflich, der New Journalism ist alt geworden.

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