Ohne diese Mauer kann man dieses Land nicht begreifen. Aus jedem Stein dieses Bauwerks spricht China, die Mauer sagt einiges aus über dieses stolze und selbstbewusste Land.
Wenn man den richtigen Abschnitt dieser mehr als 7.000 Kilometer langen chinesischen Mauer aussucht und obendrein die richtige Tageszeit, dann hat man dieses grandiose Bauwerk ganz für sich allein.
Hier bei Mutianyu, eine gute Autostunde nordöstlich der Hauptstadt Peking, ist die Great Wall nicht so übervoll mit fotoknipsenden Japanern und lärmenden Amerikanern wie im weiter westlich gelegenen Badaling. Wenig Touristen, kein Geschiebe und Geschubse, nicht die langen Reisebusse, es ist, als sei man selbst und dieser Mauerabschnitt von der Welt vergessen.
Ohne Zweifel ist die chinesische Mauer das imposanteste Bauwerk, das heute noch steht und bewundert werden kann. Es gilt als das größte von Menschenhand erschaffene Bauwerk der Zivilisation. Es sollte die Mongolen fernhalten, daran erinnern die auf Sichtweite angelegten Wachtürmen der einzelnen Abschnitte. Hier lagerten Waffen und hier waren die Soldaten stationiert.
Gut 4 Meter breit und etwa 8 Meter hoch, wurde die Mauer hier gebaut. Man hat sie auf dem spitzen, bewaldeten Bergkamm errichtet, was den Bau zu einer architektonischen und logistischen Meisterleistung werden ließ. Die Mauer besteht aus Naturstein oder gebrannten Steinen, als Mörtel wurde Brennkalk verwendet. Das Fundament wurde mit Lehm und Sand befestigt.
Diese Große Mauer steht für Chinas Größe, für seine Leistungsfähigkeit, für sein historisches Denken und für sein Selbstwertgefühl. So mag diese Mauer den Wilden und den Unzivilisierten Einhalt bieten, wobei interessanterweise im Norden ja nicht nur die Reiterhorden der Mongolen zu finden waren. Die konfuzianischen Chinesen fühlen sich nicht nur den Nordasiaten zivilisatorisch überlegen, sondern auch den Europäern.
Ein Konfuzianer besitzt einen langenAtem: Die Chinesen denken nicht in Jahren oder Generationen, das veranschaulicht der Bau dieser großen Mauer, sie denken in Dynastien. Insgesamt hat man fast zweitausend Jahre an dieser Mauer gebaut. 214 v. Chr. wurde der erste Schutzwall errichtet, erst im 16. Jahrhundert, während der Ming Dynastie, war sie halbwegs fertig.
Mein Mauerabschnitt bietet nicht nur Anschauung in Architektur und Geschichte, sondern auch eine Menge Annehmlichkeit und Spass. Bei Mutianyu gondelt der Besucher in einer zweisitzigen Sesselbahn bequem den Berg hinauf und hinab geht es dann mit noch mehr Tempo: mit einem Einer-Bob auf einer Messingbahn das kurvige Geländer hinunter bis zur Talstation.
Für einen solchen Trip würden wir keinen verlässlichen Schiffsführer finden, meint der Bootsverleiher zu uns, dahin würde uns keiner fahren. Wir sollen uns diese Schnapsidee schleunigst aus dem Kopf schlagen, wir seien ja nicht ganz dicht. Tagelang laufen wir von einem Schiffsverleih zum anderen auf der Suche nach einem Boot. Am dritten Tag schließlich finden wir einen Eigner, der uns sein Boot überlassen würde, claro, bei dem Ziel allerdings doppelter Preis – und nur, wenn der Schiffsführer mitspiele. Der junge Asunción, ein 18-jähriger Indio mit stoischen Gesicht, hört sich unser Vorhaben an und er nickt nur kurz als er das Wort Lepra hört.
Kurz vor 6 Uhr, mit dem ersten Licht des Morgens, legen wir ab. Das kleine Motorboot ist vollgestopft mit Proviant und im Heck mit zwei wuchtigen Benzinfässern mit dem Reservesprit. In Asunción haben wir einen Glücksgriff getan, der junge Amazonas-Indio kennt sich in der Region und auf dem Fluss aus wie kein zweiter. Er wird uns zur Kolonie bringen.
Am späten Nachmittag legt unser kleines Schiff in der unberührten Bucht unterhalb der Leprakolonie San Pablo an. Im Nu umringt uns ein Dutzend lärmender Kinder, ein älterer Mann kommt den Abhang herunter und heißt uns Willkommen. Der Empfang in der Leprakolonie ist herzlich. Wir, die Journalisten aus Alemania, werden bestaunt wie Außerirdische. Nun, meint der Franziskanermönch, der die Kolonie leitet und uns am Boot abholt, man freue sich über jeden Besuch, aber offen gesagt, man sei nicht auf ihn eingestellt. In der Kolonie sei schon seit Monaten niemand mehr vorbei gekommen. Und er reicht mir seine Hand zum Gruß.
Eine Leprakolonie hat natürlich kein Hotel und so bietet man uns ein Zimmer im kargen Hospital an. Eigentlich sind das bessere Holzverschläge, ebenso wie die Toilette. Die Nacht in der Leprakolonie endet abrupt. Punkt 5 Uhr 30 tönt eine sonore männliche Stimme aus den zahlreichen Lautsprechern, die, auf langen Holzstangen befestigt, über die ganze Kolonie verteilt sind: “Guten Morgen, hier spricht Manuel Rodriguez. Ich wünsche allen Bewohnern von San Pablo einen wunderschönen Tag. Und jetzt alle raus aus den Betten, Ihr Faulpelze!“
Don Manuel ist der Entertainer der Lepragemeinde. Zuerst dankt er Gott, anschließend verkündet er die Lokalnachrichten, die Preise für Fisch und Obst, die Todesfälle. Die Radiostimme des Lepradorfes gehört einem geachteten Mann, und Manuel Rodriguez ist nicht nur wegen seiner launigen Moderationen respektiert. Denn im Hauptberuf verwaltet der 50-jährige das Geld der Leprakranken. Die Krankheitsbilanz des Bankdirektors: ein Bein weg, der andere Fuß, die Finger. Aber an der Schreibmaschine sei er flink wie ein junger Hüpfer, doch leider, den Banküberfall damals, den habe er nicht verhindern können.
Seit 5 Jahren sind die Doctora Carmen Orts und ihre Kollegin Pilar Bandrés in San Pablo. Ihr Missionsorden hat die beiden Spanierinnen in den tiefen Urwald geschickt. „Vor uns war lange Zeit kein Arzt hier“, klagt die 32-jährige Carmen, „kein peruanischer Arzt will den Job übernehmen.“ Wegen der miserablen Bezahlung. Und früher, da hätten die Ärzte ihre Patienten nicht einmal anzupacken gewagt. Vielen Leprakranken werden Hände oder Füße amputiert, um den Vormarsch des Leprabazillus zu stoppen. Denn der Erreger dringt durch die Haut in die Nervenenden ein und tötet sie ab. Von Füßen und Händen aus wandert er hinauf zu Kopf und Gehirnnerven. Im Gesicht bilden sich im Endstadium poröse Hautknoten, die Haare fallen aus, ganze Körperpartien verfaulen.
Und auch jeden Abend ertönt aus den Lautsprechern eine romantische Melodie und danach die vertraute Stimme des Bankdirektors. Don Manuel dankt Gott für den herrlichen Tag und fängt an, die Abendnachrichten zu verlesen. Der Licht-Generator hat für heute seine Schuldigkeit getan, das monotone Surren der Maschine geht über in die friedvolle Stille der Natur.
Es wird dunkel und aus dem Dschungelgestrüpp ertönt das Quaken der Frösche und das Zirpen der Zikaden. Eine neue Nacht legt sich bedächtig über das kleine Lepradorf.
Hero Kind in Keitum/Sylt, Mai 2008; Photo by W. Stock
Das sind Stunden, die man sich nicht wünschen kann im Leben: Am 2. Juni im Jahr 1996, es ist ein Sonntagabend, ist Hero Kind in seinem Düsseldorfer Wohnzimmer umgefallen. Einfach so. Ohne Vorwarnung. Schlaganfall. Nach ein paar Tagen zwischen Leben und Tod und drei Wochen künstlichem Koma hat sich der ehemalige ECON-Verleger mit Disziplin und eisernem Willen in diese Welt zurück gekämpft.
Das war vor 14 Jahren. Heute lebt Hero Kind auf Sylt, wo er in Keitum ein schönes altes Friesenhaus am Wattmeer besitzt. Gesundheitlich geht es Hero Kind gut, den Umständen entsprechend, wie man so sagt. Noch immer haben Nachwirkungen der Krankheit sich nicht vertreiben lassen. Da sind vor allem noch die lästigen Lähmungserscheinungen in Bein und Arm.
Aber im Kopf, und das ist die gute Nachricht, da ist er hellwach. Er weiß Bescheid, was so vor sich geht in der Welt und in der Buchbranche. Wie früher sprudeln die Ideen aus ihm heraus, er hat kreative Geistesblitze auf der Höhe der Zeit, er entwirft neue Produkte, er hat pfiffige Marketing-Einfälle.
Und er erinnert sich noch an so vieles und an so viele aus seinen ECON– und Metropolitan-Tagen. Er kennt Namen, die ich schon längst vergessen habe und weiß um Autoren, die vor einem Vierteljahrhundert den Verlag besucht haben. Und – das ist das Schönste – er hat sich nach wie vor seinen trockenen Humor und seine Selbstironie erhalten.
Am Leben nimmt Hero Kind, ein Jurist des Jahrgangs 1944, rege teil. Er ist Nachrücker im Kirchenvorstand von Keitum, einmal die Woche geht es zum therapeutischen Reiten. Er liest viel, jeden Tag die Financial Times Deutschland, jede Woche Die Zeit und auch das Buchgeschehen verfolgt er aufmerksam. Manche Verlagshäuser schicken ihm Vorschauen. Einen Verlag wie den von Antje Kunstmann bewundert er, der entspricht seiner Philosophie: außergewöhnliche Autoren, anregende Themen, schöne Ausstattung.
Der Buchhändler Schwarz aus Keitum, der einen kleinen und schönen Laden am südlichen Kliff besitzt, kommt jeden Geburtstag bei ihm vorbei. Und ab und an rufen Kollegen an oder sagen Guten Tag, wenn sie auf der Insel sind. Das freut ihn, da lebt er auf, denn er möchte dieser sympathischen Buchbranche und seinen Menschen noch so viel mitteilen.
Hero Kind kann sich in Haus und Garten bedächtig, aber selbstständig bewegen, für Strecken im Ort nutzt er den Rollstuhl. Auch längere Reisen sind möglich, ein Mallorca-Urlaub zum Beispiel oder der Trip nach Berlin.
An seiner Seite seine Frau Simone, der Hero Kind verdankt, dass seine Genesung so kräftige Fortschritte gemacht hat. Die beiden Kinder, Juristen ebenfalls, kommen oft zu Besuch. Bei seiner Familie findet Hero Kind den Rückhalt, den er braucht, um jeden Tag ein wenig mehr zu genesen. Und auch die Ruhe und das Heilklima von Sylt tun das ihre dazu.
Miles, Sie sehen gesund aus.. Ja, das ist so. Mein Körper ist ausgeglichen. Wenn man sich gut fühlt, kann man auch gut spielen. Wenn dir dein Körper sagt, das stehst du durch, dann kannst du es schaffen.
Sie wenden sich bei Ihren Auftritten dem Publikum nicht mehr ab, kehren ihm nicht mehr den Rücken, so wie früher… Ich weiß nicht, was ich auf der Bühne tue. Die Bühne ist ein weites Feld. Und von jedem Punkt klingt der Sound anders. Ich blase meine Trompete und vergesse alles um mich herum.
Warum spielen Sie? Das ist wie eine Sucht: Ein Drang tief in mir. Das muss einfach raus.
Und was bedeutet Jazz? Keine Ahnung.
Und was bedeutet Ihnen das Wort Jazz? Jazz bedeutet schwarz. Schwarze Musik. Nein, Unsinn, ich mag dieses Wort, schwarz, nicht. Nigger. Nigger-Musik. Jawohl, Jazz ist Nigger-Musik.
Glauben Sie, dass der Jazz das Business des weißen Mannes ist? Genau das!
Warum reizt es Sie, mit jungen Musikern zu spielen? Jung, alt? Was zum Teufel hat das zu bedeuten?!
Das frage ich Sie… Das spielt keine Rolle. Alter ist unwichtig.
Der Gott der Porteños ist schon lange tot. Genauer gesagt, seit 1935, als er bei einem Flugzeugabsturz in Medellín ums Leben kam. Und doch scheint dieser Tote lebendiger zu sein als so mancher in dieser Stadt.
Man kann ihn nicht übersehen in Buenos Aires. Sein Foto baumelt wie eine Duftkerze in den Taxis, er klebt als Postkarte in der Kante des Friseurspiegels oder man betritt eine U-Bahn-Station, die seinen Namen trägt.
Und das riesige weiße Mausoleum des Tangosängers auf dem Chacarita-Friedhof ist eine Pilgerstätte, die mit allerlei Devotionalien der Ehrerbietung bestückt ist und stets von Bewunderern umlagert wird. Cada dia canta mejor, wohl wahr, mit jedem Tag singt er besser, steht als Losung auf einem goldenen Schild.
Carlos Gardel gilt in Buenos Aires als Gott des Tangos, was wahrscheinlich aber untertrieben ist. Denn eher ist er Gott, Jesus und Moses in einer Person. Wen sollte man hier sonst verehren? Die Politiker? Korrupt bis auf die Knochen. Manager? Schmierig und gierig. Schauspieler? Ziemlich bedeutungslos. Nein, nein, der Tango, diese traurige und doch irgendwie trotzige Musik eignet sich wunderbar, die unaufhörlich platzenden Träume des argentinischen Bürgers zu beklagen.
Der Tango, der um die Wende zum 20. Jahrhundert in den Matrosenkaschemmen des La Boca-Hafenviertels entstanden ist, beschreibt die melancholische, teils resignative, aber auch stolze Haltung der sozial Benachteiligten. Im Tango klagt der kleine Mann über seine Not und das Schicksal, das es nicht gerade gut mit ihm gemeint hat. Der Tango jammert über das fehlende Geld und den verbleichenden Glanz der Schönheit, über den Krach mit einer Frau, die Bitternis einer nicht erhörten Liebe.
Auf die Kernbotschaft verdichtet, beschreibt der Tango das erschreckte Aufwachen aus einem schönen Traum. Wie das Erwachen aus dem Traum vom Reichtum, der Illusion von Liebe und dem Traum, der zwischen Geburt und Tod liegt. Der bekannte Gardel-Tango Adios Muchachos ist so eine typische wehmütige und bockige Abrechnung mit dem hiesigen Leben, in der Botschaft ähnlich wie Frank Sinatra My Way singt. Und bei beiden könnte es auch heißen: Lebt wohl, Ihr Scheißkerle, ich mach mich davon, und Ihr dürft mich mal alle mal kräftig!
Sicherlich ist der Tango ein trauriger Gedanke, den man tanzen kann. Noch mehr ist er aber ein stummer Dialog zwischen Wunsch und Wirklichkeit, zwischen Mann und Frau, zwischen Nähe und Fremdheit. Für die Argentinier als Nation drückt der Tango den kollektiven Wunsch nach Geborgenheit und Heimat aus, eine Träumerei, die von der Wirklichkeit so schändlich hintertrieben wird. Und es ist der tote Carlitos, der von dieser Utopie singt. Mit jedem Tag besser.
Das Restaurant Acapulco, gefunden im April 2008 in Frankfurt am Main; Photo by W. Stock
Um diese Tatsache wird auf stockpress.de kein großes Geheimnis gemacht. Der geneigte Leser dieses Blogs wird rasch merken, der Autor mag Acapulco. Sunny Acapulco. You can’t get that out of the boy! Acapulco de Juárez, die launige Perle am stillen Ozean, ewiger Hochsommer, blauer Himmel, schrille Parties, ein lässiger Lebensstil.
Lesen Sie doch einfach einmal alle Artikel zur Kategorie Acapulco auf stockpress.de. Da reiht sich eine Liebeserklärung an die nächste.
In jungen Jahren hat der Verfasser viele schöne Monate dort gelebt. Aber lang ist es her, und nun versucht er sich daran zu erinnern, wo zum Teufel sich die Stadt Acapulco denn nun befindet. Wo auf diesem runden Globus liegt nun dieses Acapulco?
Dreißig Jahre ist es mittlerweile her, doch so langsam kommt die Erinnerung. Ja, Acapulco liegt 400 Kilometer westlich der Hauptstadt, direkt am Pazifik, und das Land heißt, ja, wie heißt das Land denn gleich?
Richtig, das wunderschöne Land trägt den Namen Mexiko. Aber vielleicht ist der Verfasser schon leicht im Geiste angekalkt und Acapulco liegt möglicherweise nicht an der mexikanischen Küste, sondern in Wirklichkeit befindet sich Acapulco in Europa, in Italien, sagen wir an der sonnigen Adria. Ja, Acapulco findet sich unter Italiens Sonne. Und Palermo liegt am Panama-Kanal, Rom in der Wüste Atacama und Triest in der Steppe Feuerlands. Und ein gewisser Silvio regiert in Argentinien.
Jetzt bin ich bald wirklich ganz balla-balla. Nur weil Acapulco in Italien liegt – jedenfalls in Frankfurt.
Im Hause von Mario Vargas Llosa in Lima/Peru. Im Januar 1986. Photo by Norbert Böer.
Eine großartige Nachricht kam da heute Mittag aus Stockholm. Den diesjährigen Nobelpreis für Literatur erhält der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa. Er musste lange genug warten.
Mario Vargas Llosa traf ich das erste Mal Anfang der 1980er Jahre in Lima. Kurz zuvor waren acht Journalisten in dem Andennest Uchuraccay von Indios zu Tode gesteinigt worden. Es waren jene Tage, in denen man sich auf der Strasse zum ersten Mal den Namen Sendero Luminoso zuraunte, und der blutige Terror dieser maoistischen Guerrilla sollte in den nächsten zehn Jahren den Alltag der Peruaner aus den Fugen bringen.
Der integre, aber schon etwas senile Präsident Fernando Belaúnde Terry muss eine aufgewühlte Öffentlichkeit beruhigen und beruft eine Kommission, die den Unmut im Ausland und in einheimischen Intellektuellenkreisen dämpfen soll. Wer nun könnte als Vorsitzenden dieser Kommission glaubhaft sein? Belaúndes Wahl fällt auf einen Schriftsteller, der sich schon damals weit über die Grenzen seiner Heimat Respekt und Renommee erworben hat. Und so wird der damals Mittvierziger Mario Vargas Llosa Vorsitzender der dreiköpfigen Untersuchungskommission, die den düsteren Fall aufhellen soll.
Bei der Schaffung der Welt, so erklärt Mario Vargas Llosa später im Gespräch, habe sich Gott einen üblen Scherz erlaubt: Auf wenig mehr als eine Million Quadratkilometer habe er drei völlig verschiedene Erdzonen – die Sahara, Tibet und den Kongo – gepresst. Die 24 Millionen Peruaner, verstreut auf drei Landschaftszonen, getrennt durch drei Sprachen und erschüttert durch tiefgehende rassische und soziale Konflikte, durchlebten exemplarisch alle Übel eines unterentwickelten Landes.
Ob man da von einer ‚Peruanität‘, von einer nationalen Identität aller Peruaner, reden könne, bei einer verschiedenartigen Völkergemeinschaft aus Indios, Chinesen, Schwarzen und Weißen? Peru ist in Wirklichkeit ein Konglomerat von Ländern. Es gibt eine Vielzahl von Kulturen in einer Gesellschaft, die leider keinen Zusammenhalt besitzt. Wenn man von der Küste in die Hochebene reist, so wechselt man nicht nur die Klimazone, sondern auch die Sprache und, so will es scheinen, gar das Jahrhundert. Diese Mannigfaltigkeit stellt Perus großes Problem dar, aber andererseits glaube ich auch, dass es der große Reichtum unseres Landes ist. Wir sind Erben verschiedener reicher Kulturen.
Aber wie sollen diese doch so unterschiedlichen Kulturen in Harmonie mit einander leben? Wo doch alleine drei Sprachen, die Indiosprachen Ketchua und Aymará sowie das Spanische, die Menschen trennen. Von der sozialen Benachteiligung gar nicht zu reden. Eine Harmonie erscheint mir im Augenblick schwer möglich, weil hinter den kulturellen Unterschieden teilweise tiefe wirtschaftliche Disparitäten stehen. Die Welt der Bauern, der Ketchua und Aymará ist eine durch das hispanisierte Peru ausgebeutete Welt. Auf der anderen Seite existieren Kulturen, wie die der Chinesen und der Schwarzen, die stärker in das peruanische Gemeinwesen integriert sind. Der afrikanische Einfluss auf unsere Musik der Küstenregion etwa, aber auch auf die Literatur ist sichtlich ausgeprägt.
Eine Person wie Mario Vargas Llosa würden die Franzosen als einen homme d’esprit bezeichnen. Dieser Mann von Geist hat zwei, drei außergewöhnliche Romane veröffentlicht, dieser Mensch kann jede Woche einen meist fabelhaften Essay zu Papier bringen und sprachlich brillant und druckreif aus dem Stehgreif eine Rede halten. Vargas Llosa ist ein virtuoser Sprachtechniker, wie sich nur wenige in der modernen Weltliteratur finden lassen, er ist ein opulenter Imaginist – und ein sympathischer Bursche obendrein. Er gilt als scharfsinniger und wortgewaltiger Beobachter seiner Heimat und des Kontinents, als jemand, dessen Rat man sucht und auf dessen Rat man hört.
Geboren wird Vargas Llosa 1936 in Arequipa, dem bedeutenden Zentrum im Süden Perus. Arequipa hinterlässt beim Besucher den Eindruck einer hübschen Stadt, deren 800.000 Einwohner von einer phantastischen Berglandschaft umgeben sind. Perus weiße Stadt wird Arequipa genannt, weil viele ihrer Strassen und Wege mit weißem Vulkanstein gepflastert sind. Der schneebedeckte Gipfel des Vulkans El Misti überstrahlt die Stadt, die weitgehend ihre pittoreske koloniale Architektur erhalten konnte. Dennoch waltet über diesem Idyll die Allmacht der Natur in ihrer heimtückischen Gefährdung durch Vulkanausbruch oder Erdbeben. Von Lava verbrannt oder von einem Erdbeben verschluckt zu werden, als sei dies die dunkle Heimsuchung, die über dieser faszinierenden Stadt und möglicherweise gleich über dem ganzen Land liegt.
Kann ein guter Schriftsteller da ob der grausamen Wirklichkeit seines Landes neutral bleiben, darf er lediglich beschreiben oder muss er vielmehr nicht all diese Zerrissenheit auch einem Werturteil unterziehen? Natürlich legt eine aufrichtige und authentische Literatur nicht nur Zeugnis ab, sondern bezieht zugleich auch Standpunkt. Sie zeigt eine wie auch immer geartete Perspektive auf, und dies schließt schon eine Art Werturteil ein. Jede wahrhafte Literatur besitzt letztlich – so glaube ich – eine kritische Funktion. Sie legt ein Problem offen, beschreibt eine Unzufriedenheit, eine Leere oder eine Unzulänglichkeit der Wirklichkeit.
Ein kluger Denker, ein großer Autor. Mario Vargas Llosa in Lima. Photo by Norbert Böer.
Anfang der 1970er Jahre, als der Boom der lateinamerikanischen Literatur einem ersten Höhepunkt zusteuerte, hatten wir junge Lateinamerika-Verrückte sechs Namen auf unseren Hitlisten ganz oben stehen: den Kolumbianer Gabriel García Márquez, die Mexikaner Juan Rulfo und Carlos Fuentes, den Kubaner José Lezama Lima, den Argentinier Julio Cortázar und den Peruaner Mario Vargas Llosa. Von diesen großen Sechs blieben heute, würde man die Liste erneut aufstellen, wohl nur noch zwei Namen übrig. Drei trinken ihre Daiquirís beim großen Autoren-Manitu über den Wolken, ein anderer charmiert ziellos als Plauderfritze durch die Feuilletons dieser Welt. Nur noch Gabo García Márquez und Mario Vargas Llosa dribbeln in jener Champions League der Literatur, in der einst auch Gustave Flaubert oder Franz Kafka spielten.
Am Malecón Paul Harris wohnt Vargas Llosa in einer gigantischen weißen Villa mit Blick auf den Pazifik. Dort auf der Anhöhe über der Brandung des Meeres in Limas Stadtteil Barranco sind Mario Vargas Llosa und seine liebenswürdige Frau Patricia allerdings nur noch selten anzutreffen. Er, der treffsichere Chronist Perus, pendelt heute zwischen London und Madrid hin und her, anstatt in den Cafés von Miraflores oder an den brütenden Gestaden des Amazonas der Geschichte seiner Heimat nachzujagen. Die Opposition zu dem Regime des autokratischen Präsidenten Alberto Fujimori und Todesdrohungen der Terroristen des Sendero Luminoso haben ihn und seine Familie Anfang der 1990er Jahre nach Europa getrieben. 1993 hat der Schriftsteller zusätzlich die spanische Staatsbürgerschaft angenommen.
Wie viele Autoren denn in einem Land wie Peru vom Schreiben leben könnten, will ich wissen. Nun, kaum einer, antwortet Mario Vargas Llosa. Die meisten, wie Julio Ramón Ribeyro, der im diplomatischen Dienst tätig war, üben andere Berufe aus, sind Journalisten oder Lehrer. Doch selbst ein Lehrer oder Arzt fristet mit einem Monatslohn von gerade einmal zwei- oder dreihundert Dollar ein kümmerliches Dasein. Das Land hat nie großen Wert auf eine vernünftige Ausbildung seiner Bürger gelegt, Perus Schulen und Universitäten leiden an schlechter Ausstattung und besitzen einen schlechten Ruf. Wer die Mittel besitzt, schickt seine Kinder auf Privatschulen oder zum Studium nach Stanford oder an die Sorbonne.
Trotz aller Preise und Auszeichnungen liegt auf dem schriftstellerischen Glanz von MVLL, wie er in Peru abgekürzt genannt wird, ein zarter Schatten. Denn bereits mit 30 Lenzen – der Kalender zeigt das Jahr 1966 – hat der Peruaner sein Opus magnum veröffentlicht. Das grüne Haus ist ein virtuos verschachtelter Roman in Zeit und Raum und gehört wohl zu den 20 sprachstärksten Werken des 20. Jahrhunderts. Das grüne Haus – allerlei Geschichten um ein Bordell in der Wüstenstadt Piura im Norden Perus – versteht sich als metaphorische Annäherung an das ganze Land. Es stellt die laszive Lebensfreude seiner Bewohner dar, aber auch die urwüchsige Gewalt des Alltags und beschreibt so als Mikrokosmos die explosiven Vielfalt der peruanischen Völkergemeinschaft.
Alles was nach dem grünen Haus kam, war – kein Zweifel – nett bis obernett. Aber weder die Tante Julia noch Lob der Stiefmutter oder sein letztes Werk Das böse Mädchen aus dem Jahr 2006 konnten sich der sprachliche Genialität des grünen Hauses nähern. Einzig Gespräch in der Kathedrale und sein spätes Kunstwerk Das Fest des Ziegenbocks vermögen dem Meisterstück La casa verde in Ansätzen das Wasser reichen. Womöglich mag sich Mario Vargas Llosa wie ein unermüdlicher 100-Meter-Läufer fühlen, der am blühenden Anfang seiner Karriere die 9,7 Sekunden lief, während der Zeitmesser später nur mehr bei 10,4 oder 10,6 Sekunden stehen blieb. Was ja auch noch beachtlich scheint, zumal dieses Schicksal der Jugendkreativität nicht nur bei Don Mario, sondern des öfteren in den bildenden Künsten zu beobachten ist. Hat nicht auch der Beatle Paul McCartney bereits mit 21 Jahren seinen Jahrhundertsong Yesterday komponiert und war er nicht noch deutlich unter 30 als er sein letztes Meisterwerk Let it be herausbrachte?
Tollkühn hat sich Mario Vargas Llosa im Jahre 1990 in ein Abenteuer gestürzt, das so bunt und wild war, als sei es einem seiner Romane entsprungen. Allseits respektiert und als haushoher Favorit gestartet, bewarb er sich in jenem Jahr um das Präsidentenamt seines vom sozialistischen Populisten Alan García gründlich ins Elend herunter gewirtschafteten Landes. Vargas Llosa verlor sensationell und er verlor sensationell hoch gegen einen Señor-San, gegen einen Nobody, gegen einen bis dahin gänzlich unbekannten peruanischen Agraringenieur japanischer Abstammung.
Gegen jede Dogmen. Ein kritischer Geist, die Stimme der Liberalität in Lateinamerika. Mario Vargas Llosa im Garten seiner Villa in Barranco. Photo by Norbert Böer.
Dieser vom Volke eher liebevoll denn despektierlich der Chinese genannte Dozent mit Namen Alberto Fujimori schaffte es in seiner elfjährigen Amtszeit zwar, das Land makroökonomisch zu stabilisieren und auch den Anführer der Sendero Luminoso-Terroristen, den irren Philosophie-Professor Abimael Gúzman, hinter Schloss und Gitter zu bringen. Gleichzeitig überzog Fujimori die Andenrepublik in der dämonischen Gestalt des faktischen Geheimdienstchefs Vladimiro Montesinos mit einem feinen Netz von Korruption und Selbstherrlichkeit. Und als die Knoten dieses Spinnennetzes im November 2000 rissen, da schickte el Chino, der sich auf einer Auslandsreise in Asien befand, aus Tokio seinem Land Peru ein mageres Fax: Er trete als Präsident zurück.
Es hat Vargas Llosa damals hart getroffen, dass nicht er, der brillanteste Sohn der Nation, diese Wahl gewonnen hat. Doch die Indios und Besitzlosen, die Mehrheit der Wähler also, haben ihn einer knappen und harschen Beurteilung unterzogen: zu weiß, zu reich, zu europäisch. Der Japaner Fujimori mit seinem kauzigen Auftreten und dem schlechten Spanisch schien da eher einer der ihren. Für die Intellektuellenwelt freilich bleibt es ein Segen, dass Vargas Llosa die Präsidentenwahl 1990 mit Pauken und Trompeten verloren hat. Sonst hätten die Peruaner einen vorzüglichen Schriftsteller weniger und einen lausigen Präsidenten mehr gehabt.
Vargas Llosa gilt als ein literarischer Tausendsassa. Er schreibt eine wöchentliche Kolumne für die Sonntagsausgabe der spanischen Zeitung El País, er verfasst Romane, bringt Erotika zu Papier, bei der selbst Playboy-Leser ein wenig erröten, er schreibt Theaterstücke, zieht durch Talkshows und dreht – wenn es denn gar nicht anders geht – sogar Kinofilme.
Als Mario Vargas Llosa 1967 den angesehenen Rómulo Gallegos-Literaturpreis entgegennahm, da haben viele seine damalige Dankesrede als flammende Lobrede auf Fidel Castros kubanischen Umsturz und sonstige Revolutionäre auf dem Halbkontinent verstanden. Ob er im Laufe der Jahre seine Ansichten geändert habe? Sehe er die Welt heute in einem anderen Licht? Sicher, ich habe einige Ansichten korrigiert. Aber mehr auf politischem Gebiet. Meine Ansicht über Literatur und literarisches Arbeiten haben sich nicht grundlegend geändert. Politisch gab es eine Zeit, wo ich der marxistischen Analyse sehr nahe stand. Ich glaubte damals an eine Revolution, an eine gewaltsame Änderung der Strukturen in den unterentwickelten Ländern, um unsere Probleme zu lösen. Nach und nach reifte jedoch die Einsicht von der Ungerechtigkeit des Marxismus.
Worin diese Ungerechtigkeit des Marxismus bestehe, möchte ich von dem Schriftsteller wissen. Denn die Abschaffung der Ungerechtigkeit habe er sich ja gerade auf die Fahnen geschrieben. Durch die Einschränkung der politischen, persönlichen und auch künstlerischen Freiheiten schafft man Gesellschaften, die dem Individuum keine Luft mehr zum Atmen lassen. Ich bin Reformer und gegen jede Form der Diktatur. Unser Ziel sollte ein demokratisches Gemeinwesen sein, das nicht nur in einem formalen Sinn funktioniert, sondern dem Volk auch materiell etwas bieten kann. Jahrhunderte lang haben unsere Länder unter diktatorischen Obrigkeiten gelitten, unter korrupten Regierungen und ineffizienten Verwaltungen. Ich bin gegen Heilslehren von links wie rechts. Ich glaube nicht an die absolute Lösung, sondern nur an relative.
Nach Herz und Habitus gilt Mario Vargas Llosa als Vertreter eines aufgeklärten, liberalen Bürgertums in Südamerika. Seit er von 1977 bis 1980 Präsident der internationalen Autorenvereinigung PEN gewesen war, verbindet ihn eine herzliche Abneigung gegen den Deutschen Günter Grass und den Kolumbianer Gabriel García Márquez. Grass messe mit zweierlei Maß, beklagt Vargas Llosa. In Lateinamerika verteidige er Dinge, in Kuba beispielsweise die Einschränkung der Pressefreiheit und der bürgerlichen Rechte, die er sich zu Hause in Deutschland niemals gefallen lassen würde. Gerade die Deutschen sollten sich vor falschem Romantizismus hüten. Fidel Castro sei kein Robin Hood.
Für García Márquez empfinde er aufrichtige Wertschätzung, und den Nobelpreis habe er vollauf verdient. Auch wenn er persönlich einen anderen Südamerikaner – nämlich den Argentinier Jorge Luis Borges – vorgezogen hätte. Und wenn Mario Vargas Llosa den Begriff Literatur-Nobelpreis ausspricht, über solche Schriftsteller räsoniert, die ihn bereits erhalten haben und solche, die ihn eigentlich verdient hätten, dann hatte seine Stimme so etwas schwingendes, etwas ungeduldiges. Er hätte ihn gerne, das wäre sein großer Wunsch, man merkt es ihm an. Doch die Schwedische Akademie der Schönen Künste lässt ihn zappeln. Bis 2010.
Nun hat er ihn bekommen. Zu spät, möchte man klagen, leider viel zu spät. Zwischenzeitlich hat der magische Realismus des lateinamerikanischen Romans viel an Glanz verloren. Der artifizielle Stil eines Vargas Llosa brummelt bei seinen letzten Erzählungen zwar brav, aber doch ziemlich altväterlich vor sich hin. Der Wechsel der verschiedenen Erzählebenen, die Technik der inneren Monologe, das Verschachteln der Handlungsstränge – das sind Erzähltechniken, die anno 1975 elektrisierten. Heute, eine halbe Ewigkeit später, ist all das nicht mehr bahnbrechend und richtungsweisend. Auch junge Wilde kommen in die Jahre. Deshalb mag man das Gefühl nicht ablegen, dieser Nobelpreis komme verspätet, in einem betrüblichen Sinne doch sehr hinausgezögert. Aber verdient, so möchte man schnell hinzufügen, verdient ist er allemal.
Mick Jagger und Mario Adorf bei den Dreharbeiten zum Film Fitzcarraldo in Peru; Photo by René Pinedo/Collection W. Stock
Iquitos, im Januar 1981
Zu unserem Lieblingsrestaurant in Iquitos wird die Casa Cohen am Jirón Próspero. Das ist ein einfaches, aber hübsches Ecklokal im Zentrum, das nach zwei Seiten zur Strasse offen ist. Die Fassade wurde mit glanzvollen blauen Reliefkacheln geschmückt, die sich hier, im peruanischen Amazonasdschungel, ein wenig surreal ausnehmen.
Als wir in dieser Nachmittagsstunde die Casa Cohen betreten, sitzt nur ein stattlicher Herr mittleren Alters mit Dreitagebart vor seinem kühlen Bier. Irgendwie kommt uns der Mann bekannt vor. Ein deutscher Schauspieler?
Sind Sie nicht Mario Adorf, fragen wir ihn auf Deutsch. Ja, lautet freundlich die Antwort, er drehe hier den Film Fitzcarraldo von Regisseur Werner Herzog. Wir setzen uns an seinen Tisch und Adorf plaudert voller Begeisterung über das Filmprojekt. Ein Film mit Mick Jagger, großartig, da freue er sich drauf wie ein Schulbub, meint der Wahl-Römer.
Am nächsten Tag beobachten wir Mario Adorf am Set. Er spielt den Kapitän der Molly Aida, eines Amazonas-Dampfers, mit dem Fitzcarraldo aufbrechen wird zu den Kautschukfelder im Norden. Adorf steht auf der Reling, neben ihm mit blankem Oberkörper und Strohhut Mick Jagger, der den Wilbur spielt. Fotograf René Pinedo schießt einige Fotos. Sie werden Seltenheitswert erlangen, weil der Film, die erste Fitzcarraldo-Fassung, nicht fertig gedreht werden sollte.
Adorf gibt – in blauen Hosenträgern – einen wunderbar brummeligen Amazonas-Kapitän ab. Die Truppe bricht auf, den breiten Amazonas hinab zu fahren. Kapitän Mario Adorf läutet die Schiffsglocke zur Abfährt. Und im Übermut läutet er die Glocke nochmals. Lauter und lauter. Adorf hat sichtlich Spass an seiner Rolle. Schließlich legt das Schiff unter dem musikalischen Getöse einer kreolischen Musikkapelle ab.
Als wir Mario Adorf das nächste Mal treffen, hat sich seine Begeisterung gelegt. Vielleicht hat er unterschätzt, dass Herzog kein Studio-Regisseur ist, sondern jemand, der seinen Filmen, seinen Schauspielern und sich selber einiges abverlangt. Jemand, der bis an die Grenze geht. In Fitzcarraldo fließt nicht nur Schweiß, sondern auch Blut. Es ereignen sich Unfälle, man zählt Verletzte und Verwundete.
Fitzcarraldo, in diesem Film wird ein Schiff über einen Berg gezogen, kann auch als Hymne an die Willenskraft gesehen werden. Der Film wirkt auf melancholische Art kraftstrotzend und körperlich. Mario Adorf und Werner Herzog funken nicht auf gleicher Wellenlänge. Adorf nennt Herzogs Umgang mit seinen Schauspielern respektlos und Herzogs cineastische Waghalsigkeit bezeichnet er als Menschenschinderei.
Und der ganze Film steht unter keinem guten Stern. Die erste Fassung bleibt, weil Hauptdarsteller Jason Robards schwer erkrankt und aussteigt, unvollendet. Adorfs Rolle spielt in der zweiten Fassung dann ein anderer. Diesen Part übernimmt dann Paul Hittscher, der deutsche Besitzer eines kleines Restaurants außerhalb der Stadt. Jener Paul Hittscher, mit dem ich einmal kräftig aneinander gerasselt bin. Aber das ist eine andere Geschichte.
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