Notizen und Anmerkungen von unterwegs

Kategorie: Mexiko Seite 2 von 3

Mein Südamerika

Dies ist ein Auszug aus dem Buch von Wolfgang Stock Schneefall in den Tropen:

Wer sich in den weichen Knäuel frisch gepflückter Baumwolle wälzt, wer die fröhliche Unbekümmertheit der Menschen erlebt und wer das ultramarinblaue Wasser des Pazifiks vor Augen sieht – der kommt so schnell nicht mehr los von diesem Kontinent. Wenn man mit dem Flugzeug das ach so polierte Europa hinter sich lässt, so taucht man urplötzlich ein in eine merkwürdige Welt: in eine ansteckende Ausgelassenheit des Daseins ebenso wie auch in ein durch den Überlebenskampf gezeichnetes nacktes Elend.

Der Reisende erlebt einen Kosmos von beeindruckender Schönheit und beispielloser Bedürftigkeit zugleich. Die Wirklichkeit Lateinamerikas stellt sich ihm so facettenreich dar wie seine Landschaftszonen: das kalte, karge Hochgebirge, die berauschende Schwüle im Regenwald, das erdrückende Gedröhn in den Großstädten oder der laszive Charme pittoresker Fischerdörfer.

Und auch die volkswirtschaftlichen Entwicklungsstufen erlebt dieser Halbkontinent nicht schlüssig und in historischer Abfolge, sondern zeitgleich als eine Art chaotischer Mischzustand. Verarmte Kleinbauern, feiste Industriebarone und entrückte Internet-Yuppies laufen da nebeneinander her wie drei ungleiche Rivalen, die nichts von einander wissen möchten und sich eigentlich auch nichts zu sagen haben.

Darüber hinaus lassen sich

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José José, Mexikos Schnulzenkönig, fällt vom Thron

Ende der 1980er Jahre in Mexico City schleppte mich eine hübsche Mexikanerin, in die ich mich ein wenig verguckt hatte, zu einem Popkonzert. Es war ein Dinner-Konzert in einem alten Theatergebäude nahe der Avenida General Prim und der Calle Versalles. Ein bekannter mexikanischer Pop-Sänger mit süßlichem Flair war angesagt.

Wir saßen oben auf Mezzanin an einem kleinen Tisch, erhielten ein einfaches Drei-Gänge-Menue serviert, während unter auf der großen Bühne die Show ablief. José José, so der Name des Sängers, war zu jener Zeit ein Star in seinem Lande, er saß unangefochten auf Mexikos Schnulzenthron. El Príncipe de la Canción, er sei der Prinz des Schlagerliedes, so umgab ihn die Fama, weil er wie kein anderer musikalischer Kitscheur jener Jahre solch Herzzerreißendes von Liebeslust und Liebesschmerz mit samtiger Stimme zu schmettern vermochte.

Ich kannte José José und einige seiner Lieder von meinen früheren Mexiko-Aufenthalten. Meinem Ohr blieb dieser Sänger nicht unangenehm. Hier sang zwar das Idol der mexikanischen Girlie-Generation, doch das Pathos bewegte sich in erträglichem Rahmen. José José besaß eine sonore, sehr seidige Stimme, die er bei seinen Balladen immer in dramatische Höhen zu hieven vermochte.

Zudem hatte dieser samtige Bariton immer ein gutes Orchester mit einem vollen Sound hinter sich. Man merkt an seiner Phrasierung, dass dieser Sänger zu Anfang seiner Laufbahn Jazz gesungen hat, so wie in Mexiko zahlreiche Sänger und Orchesterleiter vom Jazz herkommen. In seiner Heimat spielt José José eine ähnlich tragende Rolle wie in den USA Johnny Mathis, sein großes Vorbild.

Doch was ich an jenem Abend auf der Bühne in Mexiko Stadt sah, glich einem musikalischen und menschlichen Tiefpunkt. Der große José José schien

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Humphrey Bogart erkennt B. Traven

John Huston will 1947 B. Travens Roman Der Schatz der Sierra Madre verfilmen. Der 41-Jährige John, der sechs Jahre zuvor mit seinem Debütfilm Der Malteser Falken Aufsehen erregt hat, ist vernarrt in die Story um drei mittellose Goldsucher, die das gelbe Metall in den Wahn und Untergang treibt.

Ich weiß, zu welchen Taten Menschen fähig sind, wenn Gold ins Spiel kommt, wird Howard, einer der Goldsucher sagen. Walter Huston, Johns Vater, verkörpert den alten Goldsucher Howard, Humphrey Bogart den Dobbs und Tim Holt den Curtin. Auch John Huston tritt in einer winzigen Rolle in dem Film auf, als er sich von dem mittellosen Humphrey Bogart anbetteln lässt.

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John Huston freut sich auf das Filmprojekt: Endlich wird sich die Gelegenheit ergeben, jenen mysteriösen Autor B. Traven zu Gesicht zu bekommen. Der junge Regisseur schickt sein Drehbuch an Travens Agentin mit der Bitte um Weiterleitung.

Und tatsächlich meldet sich B. Traven bei dem Regisseur und beide vereinbaren für Ende 1946 ein Treffen im Hotel Bamer an der Alameda in Mexiko City. John Huston platzt voller Neugier, den geheimnisvollen Señor Traven zu treffen.

Der hochgewachsene John Huston findet sich zur vereinbarten Zeit im Bamer ein, doch Traven kommt nicht. Statt seiner erscheint ein dünner, vielleicht 1 Meter 65 kleiner, altväterlich aussehender Mann, der Huston eine Visitenkarte in die Hand drückt: Hal Croves, Übersetzer, Acapulco und San Antonio. Des weiteren zückt der Übersetzer einen Brief Travens, der Hal Croves als seinen Agenten für das Filmprojekt bevollmächtigt.

Huston ist mächtig verärgert, Traven nicht leibhaftig vor sich zu haben. Dabei hatte er einen verlockenden Köder auslegen lassen. Vertraglich hatte er die Filmfirma angewiesen, Traven für jede Drehwoche 1.000 Dollar als Berater vor Ort zu zahlen. Huston nimmt widerwillig den komischen Vogel Croves als technischen Berater mit zu den Dreharbeiten nach Tampico und nach Jungapeo in die Berge Michoacans. Huston zahlt Hal Croves 150 Dollar die Woche.

Während der Dreharbeiten von April bis Juni 1947 versucht Huston ein zweites Treffen mit Traven einzufädeln. Dieses Mal in Acapulco, das er nach Croves Andeutungen, als Travens Aufenthaltsort vermutet. Doch John Huston wird ein zweites Mal enttäuscht. Der Schriftsteller erscheint nicht.

Der Film wird ein Riesenerfolg. John Huston gewinnt einen Oscar für seine Regiearbeit, Walter Huston einen für die beste Nebenrolle. Verständlich, dass Warner Bros.versucht, für Werbezwecke den Autor B. Traven ausfindig zu machen. Vergebens. Auch jener Hal Croves ist nach Beendigung des Films wie vom Erdboden verschluckt.

Als ein amerikanischer Journalist später Humphrey Bogart Traven-Fotos aus den späten 20er und den 30er Jahren zeigt, da erkennt Bogey die Person auf den Fotos sofort: Es ist Hal Croves.

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B. Traven, der Mann mit den vielen Namen

B. Traven nutzt im Laufe seines Lebens nicht weniger als 27 verschiedene Namen, seinen richtigen ab nie. Und er legt falsche Fährten und raffinierte Finten, um seine wahre Identität zu verschleiern.

Der Autor von 13 Romanen schirmt sich in Mexiko vor der Neugier der Journalisten ab, er ist scheuer und misstrauischer alter Mann. Die Biografie eines kreativen Menschen ist ganz und gar unwichtig. Meine persönliche Geschichte ist allein meine Angelegenheit und ich will sie für mich behalten.

Er sei der uneheliche Sohn des deutschen Industriellen Emil Rathenau, lässt er streuen. Sein Bruder sei der Außenminister Walther Rathenau in der Weimarer Republik, bindet er seinem Freund, dem mexikanischen Kameramann und Regisseur Gabriel Figueroa – einen veritablen Bären auf.

Und einem jeden erzählt Traven eine andere Räuberpistole. Aber nicht nur Traven selbst, sondern auch Literaturforscher und Reporter stricken an den unzähligen Legenden.

Da ist er ein

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Ein Deutscher schreibt Mexiko

In Mexiko stosse ich auf einen deutschen Schriftsteller. Als ich in den Buchladen bei mir um die Ecke gehe, fällt dieser Schriftsteller direkt ins Auge. B. Traven. Auch wenn in der Buchhandlung nicht allzu viele Bücher vorhanden sind, so ist doch dieser B. Traven sichtbar, und das mit gleich mehreren Werken.

Ich habe mir dann El Tesoro de Sierra Madre gekauft und nachdem ich diesen Der Schatz der Sierra Madre gelesen habe, ahne ich, warum die Verehrung für diesen deutschen Autor in Mexiko so gewaltig ist.

Traven pflegt einen klaren, unprätentiösen Stil, ganz ohne Schnörkel. Inhaltlich stellt sich Traven in seinen Werken auf die Seite des einfachen Menschen und er hegt eine fast mystische Verehrung für die Ureinwohner Mexikos und ihre Nachfahren. Travens Helden sind stets die Unterlegenen, die Benachteiligten, sie sind Ausgestoßene und Außenseiter eines brutalen, ausbeuterischen Systems.

Dobbs hatte nichts. Man darf ruhig sagen, er hatte weniger als nichts, weil er nicht einmal ganze und vollständige Kleidung hatte, die unter beschränkten Verhältnissen als ein bescheidenes Anfangskapital angesehen werden darf.

Dieser Fred C. Dobbs aus Der Schatz der Sierra Madre, einem spannenden Roman, den B. Traven 1927 schrieb, ist so

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Mexiko – Land des Widerspruchs

Schneefall in den TropenAuszug aus Wolfgang Stock Schneefall in den Tropen:

Mexiko City, hier sagt man Mexico D.F., erscheint als Stadt der Superlative und der Widersprüche zugleich: Glitzernde Wolkenkratzer neben verwinkelten Stadthäusern mit pflanzenverwöhnten andalusischen Patios. Bankangestellte in ihren gut geschnittenen, blauen Business-Anzügen, die ihren café cortado in der Zona Rosa einnehmen und die Obdachlosen, die sich vor den Geschäften an der Alameda mit ein paar Pappkartons gegen die Kälte ein Lager für die kommende Nacht einrichten.

Der Paseo de la Reforma, sechsspurig in jede Richtung und über 15 Kilometer lang. Die Avenida de los Insurgentes ist mehr als doppelt so lang. Und irgendwo mittendrin steht Christoph Columbus auf seinem Bronzesockel und atmet als Dank der Nation dicke Schwaden Auspuffgase ein.

Bei genauerem Hinsehen lassen sich in dieser Megastadt vielerlei kulturelle Nischen finden, die sich

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Acapulco und der Geist

Acapulco 1982; Photo by W. Stock

Nicht nur den Jet Set und die Hollywood-Schönlinge zieht es nach Acapulco, nein, diese Stadt besitzt auch eine magische Anziehung auf Intellektuelle. Das mag auf den ersten Blick verwundern, will man einem solch mondänen Urlaubsort doch eine gewisse Oberflächlichkeit nachsagen.

Jedoch ist die Liste der Schriftsteller und Autoren, die in Acapulco weilten, beeindruckend. Da ist zum Beispiel Malcolm Lowry, der schreiben konnte, so wie ein Schmied den Hammer schwingt. Über Mexiko schrieb der britischer Autor 1947 den Roman Unter dem Vulkan, ein wortgewaltiges, ziemlich verzweifeltes Trinkerepos. Der Vulkan ist der Popocatépetl, und Lowry Sätze kommen daher wie Mexiko selbst, wild, ungestüm, am Abgrund, und doch von eigentümlicher Leidenschaftlichkeit.

Ein Roman, der übrigens von John Huston – 1984 mit Albert Finney – in Mexiko verfilmt wurde. Malcolm Lowry selbst kam

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Teddy Stauffer mag die Frauen

Nun, man kennt das ja, ein wenig Fama mag bei einem Playboy schon dabei sein. Als ich Teddy Stauffer 1982 in Acapulco besuche, erblicke ich kein Starlet, das mir den Cocktail reicht, sehe ich keine Frau, die sich auf dem breiten Bett seines Schlafzimmers räkelt. Nein, im Herbst seiner Tage ist ihm nur der mexikanische Diener geblieben, der dem schon etwas gebrechlichen Playboy über den Tag hilft.

Aber, keine Frage, Frauen dominierten Teddys Leben. Wahrscheinlich haben wir es bei Teddy mit einem Mann zu tun, der einfach nicht erwachsen werden will. Mit einem Träumer, einem Traumtänzer mitunter. Jedenfalls mit einem von der Sorte Mensch, der die sonnigen Seiten des Lebens zu genießen weiß.

Am 28. April 1941 trifft Teddy Stauffer auf der Exeter via Lisabon in New York ein. Im Schlepptau seine Freundin Louise Munn. Dann geht es auch gleich los. Im Juli 1941 eine Affäre mit der Schauspielerin Lilian Harvey. Da ist er, Teddy, der Teflon-Lover. Hier lässt einer nichts anbrennen. Und immer auf Hochtemperatur.

Teddy muss sicherlich als Playboy bezeichnet werden, aber als einer in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes. Ein Weltenbummler, sprachgewandt, extrovertiert, einer der gut feiern kann, jemand, der das Feminine liebt und sich selbst wohl auch. Einer, der die Liebe spielerisch nimmt und an die Leichtigkeit des Momentes glaubt. Mach keine halben Sachen, meint er, und wahrscheinlich sind nicht nur die Frauen gemeint.

Im Januar 1946 Heirat mit Faith Domergue, und in den Klatschspalten sollte stehen, Faith sei die frühere Geliebte des mysteriösen Tycoons Howard Hughes. Das war so etwas wie die Silbermedaille.

Gold holt Teddy dann im Juni 1947. Eine Liebschaft mit Rita Hayworth. Das ist der Gipfel! Rita, die femme fatale jener Jahre, gilt in den späten 40ern als begehrenswerteste Frau der Welt. Hollywood verleiht dieser Schauspielerin den Beinamen The Love Goddess, die Göttin der Liebe, als Pin-up-Girl hängt sie im Spind von tausenden amerikanischen Soldaten im Zweiten Weltkrieg.

Bei den Dreharbeiten zu dem Film Lady from Shanghai in Acapulco hat Teddy Stauffer jene Rita ihrem damaligen Gatten, dem genialen Orson Welles, kurzerhand ausgespannt. Dann fliegen die beiden Turteltäubchen in die Schweizer Berge und anschließend in die Stadt der Liebe, nach Paris, und die Weltpresse druckt fleißig die Fotos des Seitensprungs. Der gehörnte Orson Welles bleibt tobend zurück und wünschte Teddy Tod und Teufel an den Hals.

Doch auch die schöne Rita bleibt eine Episode. Im Oktober 1947 die Scheidung von Faith Domergue, die ein paar Stunden später den Regisseur Hugo Fregonese heiraten sollte. So ist das damals in diesen Kreisen, man sieht die Liebe eher sportlich.

Im Juni 1951 dann Heirat mit Hedy Lamarr. Hedy Lamarr, die zweite seiner fünf Ehefrauen, heißt in Wirklichkeit Hedwig Kiesler und hat es als Schauspielerin aus Österreich in Hollywood zu passablem Erfolg gebracht. Ihre Filme sind heute fast alle vergessen, aber sie bleibt in Erinnerung als die erste Leinwand-Diva, die sich – man zählt das Jahr 1933 – in einem Film, jenem mit dem verheißungsvollen Titel Extase, ganz und gar nackig zeigte. Teddys Ehe mit dem Nackedei hält ganze neun Monate.

Anfang der 50er sieht man Teddy dann öfter mit Gene Tierney in Acapulco. Im März 1955 heiratet er Ann Nekel Brown. Auch diese Ehe hält neun Monate. Ein Playboy zählt nicht die Jahre, sondern die Stunden. Die Hamburgerin Pan Am-Stewardess Ute Weller heiratet Teddy dann im Mai 1957, die Scheidung nach einem guten Jahr. Im Dezember 1958 eine Liebelei mit Schauspielerin Margaret Binns, einen Monat später dann mit Pat Gaston.

Im Jahr 1959 nochmals eine Heirat, diesmal mit Patricia Morgan, einem Modell. Am 19. April 1962 wird Tochter Melinda Morgan Stauffer in Los Angeles geboren. Die Ehe ist 1963 kaputt, Patricia stirbt 1988 in Kalifornien, 55 Jahre alt.

Worin liegt das Geheimnis dieses Mannes bei den Frauen? Teddy Stauffer ist hochgewachsen, schlank, blond, ein Typ, auf den die Frauen fliegen. Und Teddy himself ist ein ein Mann, der weiß, wo bei den Frauen der Knopf zum Anknipsen ist. Aber das ist noch mehr. Aca natürlich, der mexikanische Garten Eden eines Lebemannes, die Sonne, reichlich Hitze, Berge von Blumen, die Drinks natürlich. Aber der größte Schlüssel zum Herzen der Frauen, das weiß der Swingmusiker, ist die Musik. Wenn Teddy die Geige spielt, dann schmelzen die Frauenherzen nur so dahin. Denn Teddy lässt beim Tête-à-Tête immer seine Geige erklingen und er spielt, als spiele er nur für sie. Nur für diese eine Frau, und nur für diesen Abend. Wer würde da nicht schwach werden?

Aber nun, mit Mitte 70, zeigt sich Teddy als Playboy, den auch Zweifel und die Melancholie plagen. Wissen Sie, sagt er zu mir in Acapulco, ich war dumm. Fünfmal verheiratet, eine Tochter. Ich hätte es umgekehrt machen sollen, meint Teddy traurig, einmal verheiratet und fünf Töchter.

siehe auch: Teddy Stauffer: Der Swingkönig im Paradies

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Die Clavadistas von Acapulco

In Acapulco gelingt es mir, hinter der Quebrada, oberhalb des schon reichlich angejahrten Hotels El Mirador, einen kleinen Bungalow zu mieten. Ich wohne nun direkt über dem Meer, auf der Felsklippe, und des nachts höre ich das sanfte Rauschen der Brandung. Das ockerfarbene Dach meines Bungalow bildet eine erfrischende Beimischung zum Azurblau des Pazifik und auch zum saftigen Grün der Palmen. Habe ich schon einmal schöner gewohnt?

Abends, auf dem Weg vom Zócalo zu meiner neuen Bleibe, komme ich an dem Schauspiel vorbei, welches die Quebrada und damit auch Acapulco in der ganzen Welt berühmt gemacht hat.

Vier, fünf Jugendliche klettern eine steile Felswand empor, bekreuzigen sich oben angekommen vor einem kleinen Marienaltar, steigen auf einen Felsvorsprung, warten auf günstigen Wind und die richtige Welle, um sich dann, die Arme weit ausgebreitet, mit einem tollkühnen Kopfsprung 35 Meter tief in den gerade mal fünf Meter schmalen, tosenden Spalt des Pazifiks zu stürzen. Und das mit über hundert Stundenkilometern.

Ist das Supermann, fragt ein kleiner Junge seine Mutter, die beide neben mir stehen. Nein, antwortet die Frau, das sind die Clavadistas von Acapulco. Die Felsspringer von Acapulco. Dieses Ritual vor staunendem Publikum wiederholt sich einige Male am Abend, mal springen die Halbwüchsigen alleine, dann zu dritt und zum Abschluss mit brennenden Fackeln in der Hand.

Angefangen hat das Ganze in den 50er Jahren, zunächst als übermütige Tollheit einiger Jugendlicher aus den Slums. Zwei Männern verdankt das Felsspringen seinen späteren weltweiten Glanz. Da ist zum einen der Veteran der Clavadistas, Raúl García Bravo, das  Idol aller jungen Springer. Über 37.000 Mal ist er in die Tiefe gehechtet, beim letzten Sprung war er schon Mitte 60. Und dann muss man Teddy Stauffer nennen, den hierhin emigrierten Schweizer Swingmusiker und Mister Acapulco, der das touristische Potential des Spektakels erkannte und der die Clavadistas als Manager des in den Fels gebauten La Perla Nightclubs zum Markenzeichen dieser Stadt machte.

Ich habe vor dreißig Jahren die Felsspringer zum ersten Mal bestaunt, als das Gelände noch nicht abgeriegelt war und man sich noch keine Eintrittskarte ziehen musste. Bei meinen späteren Besuchen war das Schauspiel dann schon, leider, leider, als kalte Touristenfalle angelegt. Vollgestellt mit Bussen, die Menschen von den Kreuzfahrtschiffen oder sonstwoher herankarrten, alles straff durchorganisiert, auf Effekt gepolt, ganz ohne Herzblut.

Das scheint die Logik der Zeit, so wie die Schönheit mit den Jahren ihre Unschuld verliert. Darauf nun wirklich einen Johnnie Walker.

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Die mexikanische Krankheit

Dies ist ein Auszug aus dem Buch von Wolfgang Stock Schneefall in den Tropen:

Wie viele seiner Landsleute hat der US-amerikanische Regisseur John Huston Mexiko zu seinem Altersruhesitz erwählt. Der gute alte Gringo John ist kein Hollywood-Mann, sondern eher ein europäisch infizierter Intellektueller, der ein paar der besten Filme aller Zeiten gedreht hat. Seit er als junger Kerl für kurze Zeit bei der mexikanischen Kavallerie war, liebt er dieses Land wahrscheinlich mehr als sein eigenes.

Vom mexikanischen Fernsehen wird John unter der Sonne Puerto Vallartas in diesem Jahr 1982 dann zu allerlei Sachverhalten befragt: Wie er den neugewählten Staatspräsidenten einschätze, was von der Handelsunion zu halten sei und ob der mexikanische Film, dessen Komödien eines Cantinflas oder die Melodramen einer María Félix einst die Kinosäle füllten, sich wieder aufrappele? Und der hagere, bärtige alte Mann antwortet dann in höflichem Spanisch und mit seiner tiefen gutturalen Stimme, ja, den neuen Präsidenten halte er für einen Ehrenmann, und Mexiko werde durch die Handelsunion einen Vorteil wahrnehmen und, flunkert er, die neuen Filme in Mexiko seien doch im Grunde ganz annehmbar.

John fühlt sich wohl in diesem Land. Die Gastfreundschaft der Mexikaner sucht ihresgleichen. Der mysteriöse B. Traven, Anna Seghers, Jacobo Arbenz und Egonek fanden in dem Land Zuflucht. Die Liste der Schriftsteller und Künstler, die in Mexiko Unterschlupf fanden, ließe sich seitenlang fortsetzen. Die schöne italienische Avantgarde-Fotografin Tina Modotti und der deutsche Autor Gustav Regler. Der spanische Filmregisseur Luis Buñuel, der in seiner neuen Heimat Mexiko düstere Filme wie Los Olvidados drehte, die mit einem bis dahin auf Leinwand  nicht gesehenem sozialen Elend erschreckten.

Der deutsch-französische Schriftsteller Max Aub kam 1942 nach Mexiko, direkt aus dem berüchtigten französischen Arbeitslager Le Vernet d’Ariège y Djelfa im Norden der algerischen Sahara. Der Dichterkönig Pablo Neruda aus Chile fand Exil in Mexiko. Der Meister aller Klassen, Gabriel García Márquez, hat in Coyoacán sein Haus, weil er sich lange Jahre nicht nach Kolumbien traute. Der Autor Malcolm Lowry, der in Cuernavaca sein wildes Trinkerepos Unter dem Vulkan schrieb. Oder der US-Amerikaner Jack Kerouac, die Ikone der Beatnik-Generation. Er rotze in Mexiko seine besten Geschichten über das Leben und die Liebe auf Papier. Wenn man sich die Biografien von Verfolgten und Vertriebenen anschaut, die Chance, dass als Fluchtpunkt das Land Mexiko auftaucht, ist so unwahrscheinlich nicht.

Seit der unabhängigen und patriotischen Politik des Präsidenten Lázaro Cárdenas in den 30er Jahren stellen die mexikanischen Visa-Ämter weniger strenge Fragen als die Einwanderungsbehörden anderer Nationen. Mexiko ist ein zugeneigtes Land für Intellektuelle. Als in Spanien die republikanische Armeen den blutrünstigen Franquisten unterlagen, da hat Mexiko nach 1939 Hunderte von Schriftstellern und Philosophen, Pädagogen und Malern, Musikern und Architekten, Wissenschaftlern und Filmemachern aufgenommen. Der Dichter Luis Cernuda oder der Philosoph José Gaos brachten moderne Ideen nach Mexiko, die das Land gerne annahm. Aber da war mehr. Der Großmut der Mexikaner saß tief; als einziges Land Lateinamerikas hat es nie die Diktatur des tumben Francisco Franco anerkannt.

Mit einem kräftigen abrazo, einer herzlichen Umarmung, hat man sie empfangen, die Menschen, die gerade einen Bürgerkrieg, ihr Hab und Gut und auch ihr Vaterland verloren hatten. Selbst wer nur sein nacktes Leben retten konnte und ohne Papiere ankam, der brauchte nur zwei mexikanische Bürgen beizubringen – und schon durfte er da bleiben. Die Intellektuellen wurden integriert und machten ihren Weg, an den Hochschulen, in der Kunst und der Wirtschaft.

Mexiko ist in dieser Hinsicht ein freundliches Land für Geist und Hirn. Das Land nimmt Verfolgte und Flüchtlinge – die Bekannten und Berühmten, aber auch Tausende Namenlose – mit breiten, offenen Armen auf. Diese von Kopf und Herz bestimmte Einwanderungspolitik und die allgegenwärtige Gastfreundschaft der Menschen lassen dem Land in den Augen der Verfolgten paradiesische Züge angedeihen. Leute, die in Mexiko waren, schrieb Sergej Eisenstein, haben die mexikanische Krankheit. Mit Hartnäckigkeit verfolgt einen der Gedanken, dass Eden durchaus nicht irgendwo zwischen Euphrat und Tigris gelegen hat, sondern irgendwo hier zwischen dem Golf von Mexiko und Tehuantepec.

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